Süddeutsche Zeitung

Ökonomie:Zusammen Daten sammeln

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Der Münchner Ökonom Davide Cantoni bekommt den Gossen-Preis des Vereins für Socialpolitik.

Von Bastian Brinkmann

Bei Volkswirtschaftslehre denken viele an Bruttoinlandsprodukt und Leitzinsen, an Märkte und Preise. Davide Cantoni denkt an die Demonstranten in Hongkong. Seit fünf Jahren erforscht der Ökonom die demokratischen Einstellungen unter Hongkonger Studenten. Die Frage, ob das noch Ökonomie oder schon Politologie ist, stellt sich für Cantoni nicht. "Unsere Disziplin ist das soziale Miteinander in allen Lebensbereichen", sagt er. Damit ist der 38-Jährige repräsentativ für eine immer interdisziplinärer arbeitende Volkswirtschaftslehre. Und vor allem: Er ist darin besonders gut, sagt der Verein für Socialpolitik, das ist die deutsche Vereinigung von Ökonominnen und Ökonomen. Der Verein zeichnet Cantoni mit dem Gossen-Preis aus, verliehen im Rahmen der Jahrestagung des Vereins, die derzeit in Leipzig stattfindet. Der Preis geht jährlich an einen Ökonomen unter 45, der in den wichtigen internationalen Wissenschaftszeitschriften veröffentlicht.

Cantonis Veröffentlichungsliste - der wichtigste Maßstab für eine akademische Karriere - liest sich beeindruckend, seine Arbeiten sind erschienen im American Economic Review, dem Quarterly Journal of Economics und dem Journal of Political Economy. Seine Studien behandeln die Folgen historischer Einschnitte. Nach der französischen Revolution etwa halfen die institutionellen Reformen der Franzosen später dem Wirtschaftswachstum in betroffenen Regionen in Deutschland. Eine Lehrbuchreform in China in den Nullerjahren wiederum führte dazu, dass Studenten der autoritären Regierung mehr vertrauten.

Cantoni arbeitet viel mit anderen Ökonomen zusammen, Kontakte hat er aus seiner Doktorandenzeit in Harvard, 2005 bis 2010 war er an der Eliteuni. Wenn Cantoni forscht, setzt er auf Empirie, also auf Daten, die statistisch ausgewertet werden. Diese müssen aufwendig gesammelt oder erhoben und analysiert werden. Er fordert, dass nicht nur die Volkswirtschaftslehre noch empirischer werden müsse, sondern auch die Gesellschaft an sich: In den Schulen müsse mehr Statistik unterrichtet werden, damit die Menschen später im Leben Daten besser einschätzen können. Cantoni sieht Empirie als dritte Säule der Volkswirtschaftslehre, neben der Makroökonomie rund ums Bruttoinlandsprodukt und der Mikroökonomie, die sich um einzelne Märkte kümmert.

Für die Hongkong-Forschung sammeln Cantoni und Kollegen über jährliche Umfragen unter 2000 Studenten ihre Daten. Abgefragt wird unter anderem, wie viele Studenten politisch aktiv sind, das waren über die Jahre hinweg rund ein Fünftel. Dann wird aber auch gefragt, was Studenten denken, wie viele andere Studenten mehr Demokratie fordern. Meinungen über die Meinungen Dritter nennen Ökonomen "second order beliefs". In der Regel unterschätzen viele Menschen, dass auch andere für das Ziel auf die Straße gehen würden. Führt das nun dazu, dass Menschen erst recht auf die Straße gehen - oder hemmt das? Diesen Fragen geht Cantoni nach. Außerdem testen die Forscher in Experimenten die Einstellungen der Studenten, beispielsweise wie geduldig sie sind, um diese Werte dann später mit dem Protestverhalten zu verknüpfen.

Seit 2011 ist Cantoni Professor für Wirtschaftsgeschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Die empirische Wende habe der Wirtschaftsgeschichte geholfen, nicht mehr ein Orchideenfach zu sein, sagt er. Neben der Forschung ist ihm die Lehre wichtig. Seine Studenten geben ihm in der Evaluation gute Noten; er hilft guten Bachelorstudenten, den Master in London oder Oxford zu machen. Auch wenn dadurch mitunter Studenten der LMU verloren gehen. Aber vielleicht kommen sie später nach Deutschland zurück - wie Cantoni.

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Quelle:
SZ vom 24.09.2019
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