Süddeutsche Zeitung

Mindestlohn:Mindestlohn könnte auf 9,19 Euro steigen

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Von Thomas Öchsner

Millionen Arbeitnehmer können auf mehr Geld hoffen. Der gesetzliche Mindestlohn, der derzeit bei 8,84 Euro liegt, dürfte im kommenden Jahr erstmals auf mehr als neun Euro klettern. Grund dafür sind Zahlen, die das Statistische Bundesamt am Mittwoch bekannt gab. Der Index der monatlichen Stundenverdienste ist im Zeitraum von Dezember 2015 bis Dezember 2017 um 4,8 Prozent gestiegen, teilte die Behörde mit.

Diese Zahl, um die vor ein paar Jahren noch kein großes Aufheben gemacht worden wäre, ist inzwischen von enormer Bedeutung: Denn an diesem sogenannten Tarifindex orientiert sich die Mindestlohnkommission, die über die Höhe der gesetzlichen Lohnuntergrenze entscheidet. Aufgrund der Zahlen zeichnet sich ab, dass die gesetzliche Lohnuntergrenze auf 9,19 Euro steigen dürfte. Dies haben die Statistiker in Wiesbaden ebenfalls errechnet.

Die Erhöhung betrifft nach früheren Berechnungen des Bundesarbeitsministeriums bis zu vier Millionen Arbeitnehmer in Deutschland. In den vergangenen Jahren galt dies vor allem für ungelernte Arbeitskräfte, etwa im Hotel- und Gaststättengewerbe oder in der Callcenter-Branche, sofern ihr Arbeitgeber die gesetzliche Lohnuntergrenze nicht unterlief. Als die große Koalition den Mindestlohn Anfang 2015 einführte, betrug er 8,50 Euro pro Stunde. 2017 wurde die Untergrenze auf 8,84 Euro erhöht. Von 1. Januar 2019 wird er dann deutlich über der symbolisch wichtigen Grenze von neun Euro liegen.

Die Höhe des Mindestlohns wird alle zwei Jahre angepasst. Union und SPD waren sich schon vor der Einführung einig, dass die Lohnuntergrenze kein Streitthema zwischen den Parteien werden soll und richteten deshalb die Expertenkommission ein, die über die Höhe des Mindestlohns entscheidet. In dem Gremium sitzen je drei stimmberechtigte Vertreter von Gewerkschaften und Arbeitgebern. Kein Stimmrecht haben die beiden wissenschaftlichen Vertreter des Gremiums.

Der Entscheidungsspielraum der Kommission ist begrenzt, weil sie sich an der Tarifentwicklung "nachlaufend" orientieren soll. Maßgeblich ist dabei der Tarifindex des Statistischen Bundesamtes, in den etwa 700 Tarifverträge in Deutschland einfließen. Nach Angaben der Behörde wird als Ausgangswert für die Anpassung zum 1. Januar 2019 nicht der derzeitige Mindestlohn von 8,84 Euro angewendet, sondern 8,77 Euro. Der Grund: "Die bei der erstmaligen Anpassung des Mindestlohns vorgezogene Berücksichtigung eines Tarifabschlusses im öffentlichen Dienst wurde bei diesem niedrigeren Ausgangswert wieder herausgerechnet, damit dieser Abschluss nicht doppelt in die Erhöhung einfließt", begründen die Statistiker diese Entscheidung. "Unter diesen Voraussetzungen würde der Mindestlohn ab dem 1. Januar 2019 auf 9,19 Euro ansteigen."

Beschlossen ist aber noch nichts. Die Kommission entscheidet erst im Juni über die anstehende Erhöhung. Sie kann dabei vom Tarifindex abweichen - laut ihrer Geschäftsordnung allerdings nur mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit und "wenn besondere, gravierende Umstände auf Grund der Konjunktur- und Arbeitsmarktentwicklung vorliegen".

"Der Mindestlohn muss deutlich zweistellig werden", fordert der DGB-Chef

Das merkt auch Stefan Körzell an, Vorstandsmitglied des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB): Er weist darauf hin, dass die Mindestlohn-Kommission laut des gesetzlichen Auftrags nicht nur die tarifliche Lohnentwicklung berücksichtigen müsse, "sondern auch die Entwicklung von Beschäftigung, Wettbewerbsbedingungen und einen angemessenen Mindestschutz der Arbeitnehmer". Mittelfristiges Ziel müsse es sein, den Mindestlohn existenzsichernd zu machen. "Wenn er sich alle zwei Jahre nur um 20 oder 30 Cent pro Stunde erhöht, wird das nicht gelingen. Also müssen die Schritte, in denen der Mindestlohn steigt, größer werden" sagte der Gewerkschafter der SZ. Körzell ist selbst Mitglied der Kommission.

Thorsten Schulten, Leiter des WSI-Tarifarchivs in der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung, sieht das ähnlich: "Die Mindestlohnkommission würde sich ja selbst überflüssig machen, wenn sie lediglich auf den Tarifindex schaut." Bei einem solchen Vorgehen könnte die Kommission die wahrscheinlich deutlich höher ausfallenden Tarifabschlüsse des ersten Halbjahres 2018 erst bei der übernächsten Anpassung zum 1. Januar 2021 berücksichtigen. Der geforderte "angemessene Mindestschutz" für die Arbeitnehmer sei derzeit "mehr als fraglich, da insbesondere in vielen Großstädten der Mindestlohn sogar bei Alleinstehenden selbst bei einer Vollzeittätigkeit nicht für ein existenzsicherndes Einkommen ausreicht". Viele Mindestlohnempfänger hätten selbst bei einem Vollzeitzeitjob als sogenannte Aufstocker nach wie vor Anspruch auf zusätzliche Hartz-IV-Leistungen des Jobcenters.

Wegen der außerordentlich guten Konjunktur habe die Mindestlohnkommission "deshalb durchaus Spielraum für eine kräftigere Anpassung des Mindestlohns, die über den Tarifindex hinausgeht", sagt Schulten. Auch der rheinland-pfälzische DGB-Chef Dietmar Muscheid hatte eine kräftige Erhöhung gefordert. "Der Mindestlohn muss deutlich zweistellig werden." Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) lehnte eine Erhöhung, die über die Entwicklung des Tarifindexes hinausgeht, bislang vehement ab.

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