Süddeutsche Zeitung

Wirtschaftsentwicklung:Warum Konjunkturprognosen oft daneben liegen

Lesezeit: 3 min

Analyse von Nikolaus Piper

Abby Joseph Cohen war einer der ganz großen Stars der Wall Street. Die führende Analystin der Investmentbank Goldman Sachs wurde berühmt, weil sie als eine der wenigen den historischen Anstieg der Aktienkurse in den 1990er Jahre korrekt voraus gesagt hatte. Doch dann kam die Finanzkrise. Noch im Dezember 2007 versicherte Cohen in einem Interview der Süddeutschen Zeitung, sie rechne nicht mit einer Rezession. Tatsächlich hatte die Rezession damals bereits begonnen. Neun Monate später brach Lehman Brothers zusammen und die Weltwirtschaft wäre fast kollabiert. Abby Cohen trat fortan, was Prognosen betrifft, wesentlich vorsichtiger auf.

Niemand sollte deshalb Häme über die große Analystin schütten. Fast keiner der prominenten Ökonomen hatte die Finanzkrise korrekt vorhergesagt. Das war nicht Blindheit oder Ignoranz, sondern hatte mit der systematischen Schwierigkeit der Konjunkturforscher zu tun, Rezessionen zu prognostizieren. Nach einem beliebten Witz haben die Ökonomen von den vergangenen fünf Rezessionen zehn vorhergesagt.

Das sind alles andere als akademische Überlegungen. Derzeit befindet sich die deutsche Wirtschaft in einer sehr ambivalenten Situation. Die Konjunktur hat sich deutlich abgekühlt. Nach den Zahlen des Statistischen Bundesamtes ist die Wirtschaftsleistung Deutschland im dritten Quartal um 0,2 Prozent geschrumpft und im vierten unverändert geblieben. Die staatlichen Statistiker nennen das eine "kleine Delle", das Münchner Ifo-Institut interpretierte das so, dass die deutsche Wirtschaft " 2018 nur ganz knapp einer Rezession entgangen" sei. Formal ist das richtig - nach der in Deutschland üblichen Definition spricht man dann von einer Rezession, wenn das Bruttoinlandsprodukt in zwei Quartalen hintereinander gegenüber dem jeweiligen Vorquartal sinkt. Aber es ist schon erstaunlich, wenn die Deutschen, die sich bis vor kurzem noch in einem Jahrhundertaufschwung wähnen, so nebenbei in einer dürren Meldung erfahren, dass sie m Rande der Rezession stehen.

Dies festzustellen bedeutet nicht, die Zunft der Konjunkturforscher gering zu schätzen. Sie haben viele Indikatoren entwickelt, die ihre Prognosefähigkeit erhöhen. Einige nutzen die Zinsunterschiede an den Kapitalmärkten als Instrument. Wenn zum Beispiel langfristige Papiere (zehnjährige Anleihen) weniger Zins bringen als kurzfristige (fünfjährige Anleihen), wenn also die Zinskurve "invers" ist, gilt dies als Vorzeichen einer Rezession. Danach wären die Vereinigte Staaten nicht mehr weit vom kritischen Punkt entfernt, in Deutschland wäre die Lage kaum besser. John Paulson, Analyst bei einer Resarch-Firma aus Minnesota im Mittleren Westen der USA, macht es noch einen Tick komplizierter: Er misst die Zinsdifferenz zwischen amerikanischen Staatsanleihen und Firmenanleihen, die gerade eben noch als gute Anlage gelten ("Investment Grade"). Ist der Abstand größer als zwei Prozentpunkte, droht eine Rezession. Verlässlich ist das allerdings nicht. Das mag auch daran liegen, dass Forscher, wie alle anderen Menschen, nicht neutral sind.

Anders als es der zitierte Witz nahelegt, tun Ökonomen sich viel leichter damit, eine gute Konjunktur vorherzusagen als eine schlechte. Jonas Dovern und Nils Jannsen, zwei Ökonomen aus Kiel, haben diesen Prognosefehler einmal genauer untersucht ( Wirtschaftsdienst 2017, Heft 7) und kamen zu dem Ergebnis, dass Konjunkturprognosen im Durchschnitt um 0,4 Prozentpunkte zu optimistisch ausfallen, in Rezessionsjahren sind es jedoch mehr als zwei Prozent.

Voraussagen zur Konjunktur hängen auch von Wahlen ab

Nur spekulieren kann man darüber, ob bei den Prognosefehlern auch Vorurteile eine Rolle spielen, ob also positive Signale unbewusst, aber systematisch überschätzt werden. Weil man als Forscher im Hinterkopf das Wissen gespeichert hat, dass ein Aufschwung gut für den eigenen Job ist. Oder, wenn es sich um gewerkschaftsnahe Institute handelt, dass bei guter Konjunktur bessere Tarifverträge abzuschließen sind.

Die Frage von Rezession und Aufschwung hängt zudem von Wahlen ab und ist durch Wahlkämpfer beeinflussbar. Aus den Vereinigten Staaten gibt es gut belegte Statistiken, wonach das Wirtschaftswachstum im Jahr vor einer Wahl im langjährigen Durchschnitt höher ist, als im Jahr danach. Der US-Ökonom Edward Tufte schrieb in den 1970er Jahren: "Der Zeitpunkt von Wahlen hat einen Einfluss auf die Arbeitlosenquote und das Wachstum der realen verfügbaren Einkommen, ebenso wie auf die kurzfristige Steuerung der Inflation und der Arbeitslosigkeit." Tufte weiter: "Der Puls des Wirtschaftsgeschehens schlägt im gleichen Rhythmus wie der Puls des politischen Geschehens." Der Zusammenhang erklärt sich so: Die Regierung verteilt vor der Wahl Geschenke, deren Preis nach der Wahl fällig wird. Das Lehrbuchbeispiel dafür ist Präsident Richard Nixon. Er errang bei der Wahl 1972 einen Erdrutschsieg, nachdem er die Notenbank Fed massiv zu einer Zinssenkung gedrängt hat, die den Aufschwung künstlich verlängerte. Die fällige Rezession kam dann im Herbst 1973.

Ob sich solche Methoden in Washington jetzt wieder einbürgern, muss man sehen. In Deutschland gibt es eine so brutale Form der Wählerbeeinflussung sicher nicht. Andererseits treten in diesem Jahr, also zur Mitte der Legislaturperiode, viele Gesetze in Kraft, die den privaten Haushalten zugute kommen. Insgesamt gibt der Staat einen Konjunkturimpuls von 24 Milliarden Euro, hat das Ifo-Institut ausgerechnet. Hinter den Ausgaben steht sicher das legitime Interesse, Wahlversprechen einzulösen. Der angenehme Nebeneffekt ist, dass es eine Rezession 2019 wohl nicht geben wird.

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Quelle:
SZ vom 15.02.2019
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