Süddeutsche Zeitung

Großbritannien:Ach, Brexit

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Nach Jahren der Unsicherheit hofft die britische Wirtschaft, dass der Brexit-Streit nach den Wahlen endlich aufhört. Einfacher wird es für die Unternehmen wohl nicht.

Von Alexander Mühlauer, London

Carolyn Fairbairn versucht erst gar nicht, die Lage schönzureden. Was soll sie auch sagen? Vier Wochen vor der britischen Parlamentswahl ist es völlig offen, wie es mit dem Brexit weitergeht. Die Unternehmen müssen sich noch immer auf das Schlimmste gefasst machen. Und so ergreift die Generaldirektorin des Wirtschaftsverbandes CBI an diesem Montag die Chance, Boris Johnson und Jeremy Corbyn ins Gewissen zu reden. Sowohl bei den Tories als auch bei Labour gebe es die Gefahr, dass "extreme Ideologien" einer glänzenden Zukunft im Weg stehen könnten, sagt Fairbairn an die Adresse der beiden Parteichefs.

Doch bevor Johnson und Corbyn ihre Sicht der Dinge darlegen können, erklärt Fairbairn bei der CBI-Jahresversammlung, was sie genau stört. Bei den Konservativen ist es das noch immer das reale Szenario eines No-Deal-Brexit; dieses sei von dem Eifer getrieben, die britische Wirtschaft noch weiter zu deregulieren. Doch das wollten die Unternehmen gar nicht, sagt Fairbairn. Auch mit Labour geht sie hart ins Gericht. Die Pläne, Teile der Industrie wieder zu verstaatlichen, seien "mindestens genauso schädlich" wie die Aussicht auf einen No-Deal-Brexit unter einem Premierminister Johnson.

Wenn man Fairbairn und den versammelten Unternehmern in London zuhört, könnte man meinen, die Briten stünden am 12. Dezember vor einer Wahl zwischen Pest und Cholera. Doch diesem Eindruck versuchen sowohl Johnson als auch Corbyn zu widersprechen. Zuerst ist der Premierminister dran. Johnson erklärt also, was er bei fast allen seinen Wahlkampfauftritten erklärt: Nur wenn seine Partei eine stabile Mehrheit im nächsten Unterhaus hat, kann der Brexit zügig vollendet werden. Nur dann könne der Austrittsvertrag verabschiedet werden und Großbritannien die EU wie geplant am 31. Januar 2020 verlassen.

Doch danach kommt erst die wahre Bewährungsprobe für Johnson. Er verspricht den versammelten Unternehmern zwar, bis Ende 2020 einen Freihandelsvertrag mit Brüssel auszuhandeln. Ob ihm das tatsächlich gelingt, ist äußerst fraglich. Hinzu kommt: Bereits im Juli muss sich die britische Regierung entscheiden, ob sie die mit der EU vereinbarte Übergangsphase, in der sich für Bürger und Unternehmen so gut wie nichts ändert, verlängern will oder nicht. Sprich: Bereits vor der politischen Sommerpause muss absehbar sein, ob ein Deal im Laufe des kommenden Jahres möglich ist oder eben nicht. Johnson behauptet jedenfalls, dass dies möglich sei und dass es keinen Anlass gebe, über eine Verlängerung der Übergangsphase auch nur nachzudenken. Das Problem ist nur: Gibt es bis Ende 2020 kein Freihandelsabkommen mit der EU, droht wieder ein No-Deal und damit ein chaotischer Brexit.

Labour will die Wasser- und Energieversorger verstaatlichen - ebenso Teile von Post und Bahn

Im Vergleich dazu wäre der britischen Wirtschaft das Ansinnen von Labour schon lieber. Deren Chef Corbyn will innerhalb von drei Monaten einen neuen Austrittsvertrag mit Brüssel verhandeln; dem Vernehmen nach soll Großbritannien in einer Zollunion mit der EU verbunden bleiben. Doch dabei soll es nicht bleiben: Corbyn will, dass die Bürger bei einer Volksabstimmung darüber entscheiden, ob sie diesen Deal der EU-Mitgliedschaft vorziehen oder nicht. Für die britische Wirtschaft würde das zwar weitere Monate der Unsicherheit bedeuten, aber am Ende wäre immerhin klar, dass Großbritannien ziemlich eng mit der EU verbunden bliebe.

Das Problem, das die Unternehmer des Vereinigten Königreich mit einer labourgeführten Regierung hätten, ist ein ganz anderes: Mit Corbyn gäbe es einen Premierminister, der das britische Wirtschaftssystem radikal umbauen möchte. Der Labour-Chef will die Wasser- und Energieversorger wieder verstaatlichen, ebenso Teile von Post und Bahn. Corbyn versucht an diesem Montag zwar, sich nicht als derjenige darzustellen, für den er bisweilen gehalten wird; doch so richtig will ihm das keiner abnehmen. "Manchmal heißt es, ich sei gegen die Wirtschaft. Aber das ist Nonsense", sagt er. Und er fügt hinzu: Es sei nicht wirtschaftsfeindlich, wenn man gegen Armut kämpfe; und es sei auch nicht wirtschaftsfeindlich, wenn man in allen Landesteilen Wachstum möchte - nicht nur in London.

Am Donnerstag will Corbyn sein Wahlprogramm vorstellen, dann wird sich zeigen, wie stark er die Wirtschaft belasten will. Im Gespräch ist, dass Labour die Körperschaftsteuer von 19 auf 26 Prozent anheben könnte. Johnson wiederum will die Unternehmensteuer nun doch nicht wie angekündigt senken, sondern das Geld lieber für Infrastruktur und das Gesundheitswesen ausgeben. Der Premierminister hat wie sein Herausforderer erkannt, dass die Briten neben dem Brexit vor allem interessiert, wie der angeschlagene National Health Service (NHS) wieder gesund wird. Fest steht: Das Zeitalter des Sparens ist in Großbritannien vorbei. Sowohl Johnson als auch Corbyn wollen Milliarden in den NHS und die Infrastruktur investieren. Die Staatsverschuldung dürfte deutlich steigen, bei Labour noch stärker.

Kein Zweifel, ideologisch steht der konservative Premierminister der Wirtschaft zwar näher; er gilt allerdings als kaum berechenbar. Doch im Vergleich zu Corbyn sehen die meisten Unternehmer in Johnson das kleinere Übel. "Wenn ich mich zwischen Corbyn und einem No-Deal-Brexit entscheiden müsste, würde ich No-Deal vorziehen", sagt jedenfalls einer, der sich die Auftritte der beiden Kandidaten an diesem Montag angesehen hat. Er begrüße zwar die Pro-EU-Haltung von Labour, aber was die Partei mit Großbritannien wirtschaftspolitisch vorhabe, sei eine marxistische Agenda, die keinen Unternehmen gefallen könne, von dem her: "Dann doch lieber Boris."

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SZ vom 19.11.2019
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