Süddeutsche Zeitung

Geschichten aus Griechenland:Jetzt kommt die Mittelschicht

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Michael Alivertis ist Arzt und engagiert sich ehrenamtlich. Eigentlich hilft sein Verein Asylbewerbern, doch nun kommen normale Bürger in die Praxis. Das griechische Gesundheitssystem braucht dringend Reformen, sagt er.

Bastian Brinkmann

Die SZ hat mir ihren Lesern über Facebook, Twitter und Google Plus Menschen gesucht, die in Griechenland leben. Wir haben mit ihnen telefoniert, gesprochen, ihnen zugehört. Und alles aufgeschrieben. Jetzt erzählen wir ihre Geschichten.

Michael Alivertis, 38, hat seit ein paar Monaten eine Augenarztpraxis in Athen. Er arbeitet auch ehrenamtlich als Mediziner in einem Haus, wo Asylbewerber wohnen. Doch seit einiger Zeit kommen immer mehr normale Bürger. Ein Protokoll.

"Die meisten schämen sich. 'Ich will ja nur eine zweite Meinung einholen', sagen sie, wenn sie am Montagvormittag in meine offene Sprechstunde kommen. Und dann fragen sie doch zögerlich, ob sie die Brille bekommen können, die sie sich sonst nicht leisten könnten. Ich engagiere mich bei Ärzte der Welt, einer Hilfsorganisation wie die etwas bekannteren Ärzte ohne Grenzen. Eigentlich sind wir hier im Zentrum von Athen für die Asylbewerber da. Doch seit Herbst kommen immer mehr mittellose Griechen zu uns. Das gab es früher nicht. Fast 80 Prozent der Patienten sind jetzt griechisch.

Wir sind simpel ausgestattet, wir machen hier keine Operationen. Aber wir ersetzen den Hausarzt. Die Menschen sparen die Praxisgebühr von fünf Euro, die es seit neuestem gibt, und sie können bei uns Medikamente bekommen. Seit kurzem geben wir auch Lebensmittel aus, Brot, Reis. Das ist erschütternd. So extreme Armut, das kannte ich bisher nicht.

Das griechische Gesundheitssystem ist aufgebläht und teuer. Die staatliche Grundversorgung war schon immer unzureichend. Der Fokus liegt nicht wie in Deutschland auf dem Hausarzt, stattdessen gehen die Leute mit ihren Wehwehchen direkt in die Kliniken und Ambulanzen. Oder sie gingen eben direkt zu den niedergelassenen Privatärzten und bezahlten die zusätzlichen Kosten hier privat in bar. So hat sich ein Doppelsystem entwickelt. Doch seit Beginn der Krise rutschen die Menschen ab. Die 1000 Euro, die eine Familie für Krankheitsfälle zurückgelegt hatte, sind weg. Die Kliniken und Ambulanzen sind jetzt völlig überlaufen.

Zum Glück gibt es erste Reformen. So hat die Regierung den Medikamenteneinkauf zentralisiert. Das hat die Kosten extrem gesenkt. Früher ist hier viel versickert."

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Quelle:
SZ vom 02.06.2012
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