Süddeutsche Zeitung

Pipers Welt:Wird schon gutgehen

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Die Fußball-EM in Zeiten von Corona lässt zweifeln, ob die Gesellschaft mit künftigen Schocks fertigwerden kann.

Von Nikolaus Piper

Ja, haben die denn gar nichts gelernt? Die Bilder vom Donnerstagabend aus dem Wembley-Stadion, als England gegen Dänemark seinen Einzug ins Finale der Fußball EM erkämpfte, wirken aus der Distanz bizarr. 65 000 Fans wurden auf den Rängen des Stadions zugelassen, sie standen oder saßen dicht an dicht, lagen sich in den Armen, sangen und zogen voller Begeisterung ihre T-Shirts aus - so als hätten sie von Corona noch nie etwas gehört. Während dessen grassiert die gefährliche Delta-Variante des Virus, am Donnerstag lag die Sieben-Tage Inzidenz im Vereinigten Königreich bei 280,9. Wenn es Ereignisse gibt, die als Ansteckungsherde wirken ("Superspreader Events"), dann sind das die Spiele der Europameisterschaft im Allgemeinen und die in Großbritannien im Besonderen. Beim Finale am Sonntag sollen wieder 60 000 Zuschauer zugelassen werden. In Deutschland ist die Lage zwar weniger schlimm, die Inzidenz liegt noch bei 5,2, aber vielleicht gerade deshalb breitet sich auch hier Sorglosigkeit aus. Dabei hat die ganze Nation im vergangenen Herbst erlebt, was passiert, wenn man zu früh denkt, das Schlimmste sei vorbei und man könne zur Normalität übergehen.

Die Frage, was die Verantwortlichen für die Europameisterschaft und die Fans aus Corona gelernt haben und was nicht, ist ein zentrales Thema für die Wirtschaftswissenschaften. Und zwar nicht nur in dem trivialen Sinne, dass bei Fußball immer viel Geld im Spiel ist. Ökonomische Theorien gehen meist von der Annahme aus, dass Menschen rationale Wesen sind, vorausgesetzt, ihnen stehen alle relevanten Informationen zur Verfügung. Sie werden sich zum Beispiel nicht bewusst selbst Schaden zufügen. Das Problem liegt darin, dass bestimmte Informationen gar nicht verfügbar sein können, ganz einfach, weil sie sich auf die Zukunft beziehen. Der Kurs einer Aktie etwa oder eben das Risiko, an Corona zu erkranken. Die Menschen müssen Erwartungen bilden, um überhaupt entscheiden zu können.

Spannend wird die Sache dadurch, dass die meisten Menschen zum Optimismus neigen. Das ist einerseits sehr gut, denn Optimisten sind glücklicher und kommen besser durchs Leben als Pessimisten, die immer das Schlimmste befürchten. Auf der anderen Seite ist ihre Urteilskraft aber getrübt, weil sie die Zukunft systematisch zu positiv sehen. Ein Klassiker ist die Altersvorsorge. Die meisten Menschen in Deutschland überschätzen das Einkommen, das sie im Alter haben werden, und unterschätzen ihren voraussichtlichen Geldbedarf, das Ergebnis ist eine Versorgungslücke. Oder, bezogen auf den Fußball. Wer den Sport mag, den macht ein schönes Spiel glücklich. Zu erwarten, dass Fans, wenn ein Tor fällt, an Viren denken, wäre komisch. Die Leute gehen ins Stadion oder in ihren Pub und denken sich: "Wird schon gutgehen." Auch wenn die Folgen möglicherweise fatal sind.

Die Pandemie hat gezeigt, wohin diese Haltung des "Wird schon gutgehen" führen kann. Markus Brunnermeier, Wirtschaftsprofessor an der amerikanischen Princeton-Universität, hat ein Konzept entwickelt, wie man das Problem besser analysieren kann. Er nennt es "Optimale Erwartungen". Die Idee dahinter sieht, stark vereinfacht, so aus: Die "Kraft des Optimismus" muss mit der "Kraft des Realismus" ins Gleichgewicht gebracht werden. Um diesen Realismus zu entwickeln, ist es notwendig, dass die Menschen immer wieder neu lernen und aus Erfahrung klug werden. Das ist weniger simpel, als es klingt. Schwierig wird kontinuierliches Lernen etwa dann, wenn der Staat den Menschen die Entscheidungen abnimmt. Oder wenn ein Einzelner durch sein Verhalten das eigene Wohlergehen nur teilweise beeinflussen kann. In der Pandemie kommt es eben nicht nur darauf an, dass ich Maske trage, die Hände wasche und mich impfen lasse, sondern auch darauf, dass die meisten Mitmenschen das auch tun. In Sachen Fußball-EM kommt noch hinzu, dass die Uefa und lokale Behörden die Verantwortung für die Verhältnisse in den Stadien hin und her geschoben haben. Wie soll der Einzelne da noch die Kraft des Realismus bilden können?

Menschen müssen überhaupt erst die Möglichkeit haben zu lernen. Erst dann kann die Gesellschaft Schocks abfedern und widerstandsfähiger ("resilient") werden, glaubt Brunnermeier. Er hat zu dem Thema ein Buch geschrieben, das in diesen Tagen in die Buchhandlungen kommt (Markus Brunnermeier: "Die resiliente Gesellschaft", Aufbau-Verlag Berlin). Unsere Gesellschaften werden, so seine These, in Zukunft vielen Schocks ausgesetzt sein, Ereignissen und Katastrophen also, die die ersten ihrer Art sind und mit denen noch niemand Erfahrung hat. Covid-19 ist dafür nur ein Beispiel. Auch ein katastrophaler Cyberangriff könnte die Wirtschaft des Landes lahmlegen. Das offenkundigste Beispiel aber ist der Klimawandel. Dessen Folgen für den Zusammenhalt der Menschen lassen sich erst erahnen. Zu lernen, wie man die Erderwärmung bekämpft, ist besonders schwer, weil es fast bedeutungslos ist, was ein Land wie Deutschland alleine unternimmt, wenn der Rest der Welt nicht mitmacht. Für die einzelnen Bürger gilt das erst recht: Wer den Klimawandel bestreitet und sich entsprechend verhält, muss keine Nachteile fürchten.

So gesehen lässt der Umgang mit der Pandemie Rückschlüsse auf den Umgang der Gesellschaft mit dem Klimawandel zu. Es gab Positives - so schnell wie noch nie waren Impfstoffe auf dem Markt, die Wirtschaft hat sich als sehr innovativ erwiesen. Auf der anderen Seite standen unfassbarer Leichtsinn, Realitätsverweigerung und der Missbrauch von beidem durch Querdenker und offene Rechtsextremisten. Optimale Erwartungen müssen sich wohl erst noch bilden.

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