Süddeutsche Zeitung

Flucht in Staatspapiere:"In der Finanzwelt stimmt etwas nicht"

Lesezeit: 3 min

Zum ersten Mal in der deutschen Geschichte bringen zehnjährige Bundesanleihen negative Renditen. Wer Deutschland Geld leiht, legt am Ende drauf.

Von Harald Freiberger und Markus Zydra, Frankfurt

Deutschland ist ein Exportgigant, doch aus der Mitte der nationalen Finanzwirtschaft hat es eigentlich nur ein Produkt auf die Weltmärkte geschafft. Die Rede ist von der zehnjährigen Bundesanleihe. Banken, Versicherungen und auch viele Privatanleger haben seit Anfang der 1960er-Jahre die Sicherheit des Wertpapiers und den häufig respektablen Zins zu schätzen gelernt.

Mit der Finanzkrise hat sich das Bild ab 2009 deutlich verändert. Der Zinsertrag auf die wichtigste Bundesanleihe verringerte sich immer mehr, weil die Europäische Zentralbank (EZB) den Leitzins sukzessive bis auf null Prozent absenkte. Bundesanleihen mit kürzerer Laufzeit sind schon seit gut einem Jahr ein Verlustbringer. Jetzt hat es auch den Platzhirsch, die zehnjährige Bundesanleihe, erwischt. Die Konsequenz: Investoren legen drauf.

Es war gegen 9.20 Uhr am Dienstag, da sank die Rendite der zehnjährigen Bundesanleihe an den internationalen Börsen erstmals in der bundesdeutschen Geschichte unter die Nulllinie. Das bedeutet: Anleger, die das Wertpapier gekauft haben, machen am Ende einen Verlust. Sie leihen dem Staat beispielsweise eine Milliarde Euro und erhalten nach Ablauf der Laufzeit nur 999 660 000 Euro zurück - die Rendite betrug am Dienstagmittag minus 0,034 Prozent. Das ist ein Segen für den Bundeshaushalt, der durch Kreditaufnahme Geld verdient. Es ist ein Fluch für die Anleger. "Wenn Anleger sogar auf zehn Jahre keine Rendite mehr bekommen, zeigt das: In der Finanzwelt stimmt etwas nicht", sagt Robert Halver, Kapitalmarktstratege der Baader Bank. "Wir erkaufen uns die Erhaltung des Euro damit, dass wir in der Zinswelt Sünden zulassen, die früher undenkbar waren." Der Preis dafür werde hoch sein, warnt der Experte, zum Beispiel bei der Altersvorsorge. "Die Versicherer werden ihre Zinsversprechen nicht mehr einhalten können."

Die starke Nachfrage nach den deutschen Schuldscheinen hat einen Grund. An den internationalen Finanzmärkten grassiert die Angst. Am 23. Juni stimmen die Briten in einer Volksabstimmung über den Austritt aus der EU ab. Wenn die Brexit-Befürworter eine Mehrheit bekommen, steht die Zukunft der Europäischen Union auf dem Spiel. Schon jetzt bereiten sich die Geldprofis auf das Schlimmste vor und verkaufen vorsichtshalber Aktien. Der Dax hat in der vergangenen Woche rund fünf Prozent an Wert verloren. Stattdessen fließt das Geld nun in sichere Wertpapiere. Das sind zehnjährige Staatsanleihen aus der Schweiz, die ebenfalls Negativrenditen abwerfen, und eben die Bundesanleihen.

Investoren nehmen also bewusst Verluste in Kauf? Ja, gezwungenermaßen. Sie stecken das Geld in verlustbringende Staatsanleihen, um womöglich noch höhere Verluste an den Aktien- und Devisenmärkten zu verhindern. Gleichzeitig gibt es auch regulatorische Vorschriften, die Banken und Versicherungen praktisch dazu zwingen, in ausfallsichere Staatsanleihen zu investieren. Niemand kauft jetzt deutsche Anleihen, weil er das wirklich möchte. Sie werden gekauft, weil man muss. "Es ergibt von der ökonomischen Logik her keinen Sinn, eine lang laufende Anleihe mit negativer Rendite zu kaufen, weil man sich damit über lange Zeit garantierte Verluste einhandelt", sagt Elmar Völker, Anleihenexperte der Landesbank Baden Württemberg (LBBW). Allerdings gebe es keine Alternative. "Es gibt keine sicheren Anlagen mehr mit Rendite, und es kann noch weiter nach unten gehen. In der Schweiz liegt die Rendite zehnjähriger Anleihen bei minus 0,5 Prozent", sagt Völker.

Das Bundesfinanzministerium spart jedes Jahr Milliarden Euro an Zinskosten

Die jüngsten Preisentwicklungen an den Anleihemärkten widersprechen der marktwirtschaftlichen Logik. Geld sollte einen Preis haben, und Darlehensnehmer wie der Staat sollten für einen Kredit auch einen Zins bezahlen müssen. Doch die Zentralbanken der Industriestaaten haben den Leitzins nach der Finanzkrise auf null Prozent abgesenkt. Die EZB verlangt für Bankeinlagen sogar einen Strafzins. Darüber hinaus kauft die EZB jeden Monat Staatsanleihen im Wert von rund 70 Milliarden Euro, darunter auch viele Bundesanleihen.

Die EZB ist damit für die negativen Renditen mitverantwortlich. Andererseits spart das Bundesfinanzministerium dadurch jedes Jahr Milliarden Euro an Zinskosten, was der Allgemeinheit zugute kommt. Die niedrigen Zinsen führen außerdem zu günstigen Verbraucher- und Immobilienkrediten.

Die Renditen für Bundesanleihen sind in den vergangenen 35 Jahren kontinuierlich gesunken. Anfang der 1980er-Jahre warf die zehnjährige Bundesanleihe über zehn Prozent ab, 1990 waren es 9,1 Prozent. Im Jahr 2000 waren es 5,5, zehn Jahre später 3,4 Prozent. Im September 2014 fiel die Rendite erstmals unter ein Prozent. Ein Grund für den Wandel: In den 1970er- und 1980er-Jahren gab es hohe Inflation, die mit hohen Zinsen bekämpft wurde.

Doch nach dem Fall der Mauer 1989 und der Marktöffnung Chinas nahm die Globalisierung Fahrt auf. In der Folge sanken die globalen Produktionskosten. Die Inflation ging immer weiter zurück, die Arbeit der Währungshüter veränderte sich. "Die Geldpolitik der Zentralbanken hat darauf reagiert. In Phasen der Zinserhöhung wurde weniger erhöht als zuvor, in Phasen der Senkung tiefer gesenkt", sagt Anleiheexperte Völker. Die Finanzkrise habe diesen Trend noch verstärkt. "Es ist schwer abzuschätzen, ob das Unterschreiten der Nulllinie ein Signal für eine Wende ist oder das Gegenteil: dass es noch weiter nach unten geht", so Völker.

Doch irgendwann dürften die Zinsen wieder steigen. Dann droht eine ganz andere Gefahr. "Anleger haben gewaltige Kursgewinne auf ihren Anleihen angehäuft. Wenn sie sehen, dass es in die andere Richtung geht, besteht Crash-Gefahr", meint Börsenexperte Halver. Die Investoren würden Anleihen verkaufen, um ihre Kursgewinne zu sichern. "Eine so gewaltige Anleihen-Blase ist noch nie geplatzt."

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Quelle:
SZ vom 15.06.2016
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