Süddeutsche Zeitung

EuGH-Urteil:Millionen Verbraucher können Kreditverträge widerrufen

Lesezeit: 3 min

Von Andreas Jalsovec, München

Wer als Verbraucher sein Recht einklagt, braucht einen langen Atem. Andreas Poß weiß das. Vier Jahre schon streitet der 42-Jährige Diplomingenieur mit seiner Sparkasse um den Widerruf seines Immobilienvertrags. Dieser enthält nach Ansicht von Poß und dessen Anwalt rechtswidrige Klauseln. Die Sparkasse ist anderer Meinung. Der Fall ging vors Landgericht Saarbrücken. Das verwies ihn an den Europäischen Gerichtshof (EuGH) - und dort bekam der Diplomingenieur aus dem saarländischen Eppelborn jetzt Recht. Der EuGH erklärte die sogenannte Widerrufsinformation in dem Vertrag für unvereinbar mit europäischem Recht.

Das Urteil dürfte "Signalwirkung" haben meint Poß' Anwalt Thomas Röske von der Berliner Kanzlei Gansel Rechtsanwälte: "Die Klausel findet sich in nahezu allen Verbraucherkreditverträgen, die seit Juni 2010 abgeschlossen wurden" - und das dürften einige Millionen sein. Verbraucher könnten diese Verträge nun im Prinzip widerrufen "und so tausende Euro sparen".

"Widerrufsjoker"

Mit diesem sogenannten "Widerrufsjoker" sei etwa bei Autokredit- und Leasingverträgen die Rückgabe des Fahrzeugs gegen Erstattung aller bereits gezahlten Raten möglich, meint der Anwalt. Interessant könnte das bei Fahrzeugen sein, die vom Dieselskandal betroffen sind. Bei Immobiliendarlehen könnten Betroffene unter Umständen das Darlehen auf einen Vertrag mit günstigeren Zinsen umschulden oder ihn vorzeitig ablösen - ohne eine Vorfälligkeitsentschädigung, also ohne die Strafgebühr, die Banken dann meist verlangen.

Die Klausel, um die es geht, findet sich in der Widerrufsinformation der Verträge. Dort wird für den Beginn der Widerrufsfrist auf "§ 492 Absatz 2" des Bürgerlichen Gesetzbuches verwiesen. Der verweist seinerseits wieder auf etliche andere Paragraphen. Juristen nennen das einen "Kaskadenverweis". Im vorliegenden Fall umfasse die Verweiskette "sieben bis acht Seiten Gesetzestext", sagt Anwalt Röske: "Da müssen sie Jurist sein, um das zu verstehen."

"Enorme Tragweite"

Die Europäischen Richter sahen es genauso: Wegen des Kaskadenverweises könne ein Verbraucher "weder den Umfang seiner vertraglichen Verpflichtung bestimmen, noch überprüfen, ob der von ihm abgeschlossene Vertrag alle erforderlichen Angaben enthält". Dies widerspreche der europäischen Richtlinie für Verbraucherkreditverträge. Sie verlange, Verbraucher "in klarer und prägnanter Form" über die Vertragsmodalitäten zu informieren.

Das Urteil habe eine "enorme Tragweite", heißt es bei Gansel Rechtsanwälte. So seien potenziell fast 20 Millionen Autokredit- und Leasing-Verträge mit einem Volumen von 340 Milliarden Euro betroffen. Bei den Baukrediten für private Haushalte gehe es um eine Darlehenssumme von insgesamt 1,2 Billionen Euro.

Während sich jedoch bei Autokrediten die vom EuGH beanstandete Klausel noch heute in den Kreditverträgen findet, ist es bei Immobiliendarlehen komplizierter. Dort seien nur Verträge betroffen, die zwischen Juni 2010 und März 2016 abgeschlossen wurden. "Danach wurde in den Kreditverträgen eine andere Formulierung verwendet", sagt Rechtsanwalt Röske.

Anwalt rät zum Widerruf

Gerade bei solchen älteren Baukredit-Verträgen jedoch kann ein Widerruf mit anschließender Umschuldung lukrativ sein. Andreas Poß etwa schloss den Darlehensvertrag für den Bau seines Einfamilienhauses zu einem Kreditzins von 3,6 Prozent ab. Heute kosten solche zehnjährigen Baukredite im Schnitt weniger als 0,8 Prozent. Je nach Kreditsumme macht das über die Laufzeit eine Ersparnis von mehreren tausend Euro an Zinsen aus.

Allerdings gibt es beim Widerruf der Immobilienkredite einen Haken. Der Bundesgerichtshof (BGH) hatte 2016 die jetzt vom EuGH beanstandete Formulierung für rechtens erklärt. Ob er diese Ansicht wegen des EuGH-Urteils revidieren wird, sei offen, meint Anwalt Röske: "Es kann daher sein, dass sich die Banken weiterhin auf die Entscheidung des BGH berufen und es auf eine Klage ankommen lassen."

Tatsächlich verweist die deutsche Kreditwirtschaft darauf, dass der BGH "die Rechtmäßigkeit der Widerrufsbelehrung" bereits bestätigt habe. Diese, so heißt es auf Anfrage, sei den Banken im Übrigen per Gesetz als Muster verbindlich vorgegeben worden: "Die Kreditinstitute mussten diese so verwenden". Für die nun entstandene Situation eine Lösung zu finden, sei daher auch "Aufgabe des deutschen Gesetzgebers". Mit anderen Worten: Der Staat soll den Instituten nun aus der Patsche helfen.

Dennoch rät Anwalt Röske zum Widerruf. Denn durch das EuGH-Urteil seien die Chancen auf eine außergerichtliche Einigung deutlich gestiegen. Auch bei der Interessengemeinschaft Widerruf, die Verbraucher bei der Auseinandersetzung mit den Banken unterstützt, heißt es: "Viele große Immobilienfinanzierer könnten ihre Blockadehaltung aufgeben und Kompromissangebote machen." Vor einem Widerruf sollte man den eigenen Vertrag jedoch von einem Fachmann prüfen lassen. Das kann ein spezialisierter Anwalt sein. Auch die Verbraucherzentrale Hamburg bietet die Prüfung von Baukreditverträgen an.

Andreas Poß hofft nun, dass die Sparkasse im Streit um seinen Vertrag einlenkt. Sollte das nicht passieren, sei er ⁰ bereit, die juristische Auseinandersetzung vor deutschen Gerichten weiterzuführen, sagt er: "Schließlich geht es dabei auch um eine Frage, die sehr viele Verbraucher betrifft."

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SZ vom 27.03.2020
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