Süddeutsche Zeitung

Coronavirus:Der schnellste Börseneinbruch seit fast 100 Jahren

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Vor wenigen Tagen noch herrschte an der Börse Rekordlaune, jetzt stürzen wegen des Coronavirus die Kurse. So heftig war es seit den düsteren Tagen der Großen Depression nicht mehr.

Von Victor Gojdka

Es ist Freitagmorgen um Punkt acht Uhr, als auf Stefan Scharffetter eine Lawine zurollt. Scharffetter, elegante Brille, weißes Hemd, arbeitet als Händler am Frankfurter Börsenparkett. Dort, wo die Kurstafel dieser Tage so oft klackert wie sonst selten. Wo die Kunden viermal so viele Euros hin und her schieben wie an normalen Tagen. Wo Scharffetter und seine Kollegen inzwischen alle Überstunden machen, von acht bis 22 Uhr. Es geht einfach nicht anders. "Wir stehen unter Dauerbeschuss", sagt der Börsenhändler. Am Tag, als der Deutsche Aktienindex (Dax) zwischenzeitlich um mehr als fünf Prozent in die Tiefe stürzt.

Es ist nicht nur ein schwarzer Tag für die Börsen, es ist eine schwarze Woche: Der deutsche Leitindex Dax verliert an nur fünf Tagen rund zwölf Prozent. Sein US-amerikanisches Pendant S&P 500 sackt ebenso stark ab. An den globalen Aktienbörsen pulverisiert sich allein in dieser Woche ein Börsenwert von fünf Billionen Dollar, eine Zahl mit zwölf Nullen.

Es ist am Donnerstagmorgen, als Investmentlegende Scott Minerd realisiert, wie ernst die Lage ist. Wenige Stunden später sitzt er im Studio des Börsensenders Bloomberg, die Krawatte zugezogen, der Blick ernst. "Das ist wahrscheinlich das Schlimmste, was ich in meiner Laufbahn erlebt habe", sagt Minerd. Und der Investor hat bereits viel erlebt: den Blitzcrash 1987, das Platzen der Internetblase 2000, die Finanzkrise 2007/2008. Doch Zahlen zeigen: Es ist die schnellste "Korrektur" im S&P500 seit den Tagen der Großen Depression in den anbrechenden Dreißigerjahren des vergangenen Jahrhunderts. Im Sprachgebrauch der Anlageprofis meint dieses Wort: Die Kurse sind seit dem letzten Rekord um mehr als zehn Prozent gefallen.

Mit dem Coronavirus ist an der Börse das gelandet, was viele einen "Schwarzen Schwan" nennen: ein unerwartetes Ereignis, das plötzlich seine Wirkmacht entfaltet - wie ein Schwan seine Flügel. Wirtschaft und Unternehmen geraten gleich von zwei Seiten in Probleme: Wenn ganze Städte stillstehen, kauft dort niemand mehr ein. Und wenn Fabriken ruhen und Schiffe nicht fahren, dann zerfetzt es die internationalen Lieferketten einer verflochtenen Weltwirtschaft. "Da werden viele Hiobsbotschaften kommen in den nächsten Monaten", sagt der Aktienstratege Christian Kahler von der DZ-Bank.

Was ein solcher Börsensturz bei Anlegern auslöst, weiß kaum jemand so gut wie Joachim Goldberg. Seit mehr als 40 Jahren beschäftigt sich der hochgewachsene Mann mit der knarzigen Stimme mit dem Zusammenspiel von Menschen und Märkten, mit der Psychologie der Anleger. Er meint: Vor allem die Ansteckungszahlen aus Italien haben am Montag viele europäische Anleger in Angst versetzt und den Ausverkauf losgetreten. "Man ist sorglos eingeschlafen und dann fürchterlich aufgewacht", sagt Goldberg.

Lange hatten die Anleger in Sachen Coronavirus abgewunken: Was kümmert uns schon ein Schnupfen in China? "Das ist eine typische Psychofalle", sagt Goldberg. Denn was weit weg stattfindet, muss nicht automatisch weniger wichtig sein. Und spätestens seit dem vergangenen Wochenende ist klar: Die Ansteckungszahlen in China sinken zwar, aber in anderen Ländern steigen sie massiv.

Die Anleger flüchten sich in die vermeintlich sicheren Häfen, vor allem in deutsche und amerikanische Staatsanleihen - sie stehen im Ruf, sich auch in Phasen größter Verwerfungen immer noch geregelt kaufen und verkaufen zu lassen.

Beobachter halten diese Panik der Anleger jedoch für überzogen: Wie genau und in welchem Ausmaß das Coronavirus den Unternehmen tatsächlich schadet, lässt sich derzeit nicht sagen. "Das ist eine Blackbox", sagt Aktienstratege Kahler. Sicher, Fluglinien, Autobauer oder Reisekonzerne dürften stärker leiden als andere. So wurde am Freitagabend die weltgrößte Reisemesse ITB in Berlin abgesagt. Und die Lufthansa kündigte an, ihr Angebot von Kurz- und Mittelstreckenflügen in Abhängigkeit von der weiteren Entwicklung in den kommenden Wochen um bis zu einem Viertel zurückzufahren. Aber erst wenn die Unternehmen im April und Mai ihre Zahlenwerke vorlegen, wird sich der Nebel lichten. Mit der Finanzkrise von 2008 lässt sich das Geschehen dieser Tage nicht vergleichen. Damals zerriss es nicht nur Lieferketten, es zerlegte ganze Bankhäuser. Gerade für Privatanleger, die langfristig investieren, ist die grassierende Angst am Börsenparkett kein guter Ratgeber. "Sparpläne sollte man laufen lassen", sagt Kahler. Denn auf lange Sicht dürfte die Wirkung des Coronavirus verblassen. Hoffnung macht ausgerechnet eine reißerische Fernsehsendung mit dem Titel "Märkte in Aufruhr", die der Börsensender CNBC diese Woche gleich mehrmals ausstrahlte. Börsenexperten haben ausgerechnet: Spätestens drei Monate nach solchen Sendungen lagen die Kurse wieder im Plus. Zumindest in der Vergangenheit.

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SZ vom 29.02.2020
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