Süddeutsche Zeitung

Kommentar:Das Land braucht Reformen

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Die Regierung Merkel hat die Bürger in der Corona-Krise aufgefangen, aber die Zukunft der Volkswirtschaft vernachlässigt. Für die Nachfolger gibt es beängstigend viel zu tun.

Von Alexander Hagelüken

Die deutsche Wirtschaftspolitik befindet sich im Übergang. Das liegt zum einen daran, dass die Impfzahlen zunehmen und die meisten Branchen sich erholen. Geschieht nichts Unerwartetes, lässt die Volkswirtschaft die konjunkturellen Schrecken der Pandemie langsam hinter sich. Dadurch zeichnet sich ab, welche Herausforderungen nun warten. Schultern muss sie neues Personal, das ist der zweite Teil des Übergangs: Nach 16 Jahren endet die Ära von Angela Merkel, die wirtschaftspolitisch eher reagierte als programmatisch zu agieren.

Beim Reagieren immerhin gelang der Regierung Merkel zum Ende etwas: Sie vermied mit gewaltigen Ausgaben ein Corona-Drama für ihre Bürger. Kurzarbeitergeld und Co. verhindern Massenentlassungen - und 80 Prozent der Einkommensausfälle, die die Deutschen sonst hätten, rechnet das Ifo-Institut vor. Das ist eine kluge keynesianische Krisenpolitik, für die jedoch eher SPD-Fachminister wie Hubertus Heil verantwortlich zeichnen denn die sonst stets aufs Sparen abonnierte Kanzlerin.

Wenn die Konjunktur anspringt, muss die Regierung ihre Interventionen reduzieren, aber nicht zu schnell. Kurzarbeit etwa wird noch bei manchem Dienstleister gebraucht, um Entlassungen zu verhindern. Und die Regierung hat jene im Auge zu behalten, bei denen es finanziell knapp wird: Für Geringverdiener, Alleinerziehende oder gebeutelte Selbständige ist im Zweifel manche Hilfe zu verlängern, bis sie festen Boden unter den Füßen spüren.

Die nächste Regierung muss für nachhaltiges Wachstum sorgen

Die nächste Regierung ab Herbst muss dann daran gehen, die Einnahmebasis des fürsorglichen Sozialstaats wiederherzustellen: durch nachhaltiges Wachstum. An diesem Punkt fallen die Versäumnisse der Merkel-Ära stark auf. Investitionen unterblieben, weil die Kanzlerin als Sparmeisterin Profil gewinnen wollte und sich so zur schwarzen Null machte. Deutschland wurde unzureichend digitalisiert, Schulen und Verkehrswege in schlechtem Zustand hinterlassen, Jugendliche aus ärmeren Elternhäusern bildungsmäßig abgehängt. Erst spät begann die Regierung, im Zeichen des Klimaschutzes Investitionen anzustoßen. Das war höchstens ein Anfang.

Planlos wirkt der Merkelismus, was die Rolle deutscher Firmen in der Welt angeht. Das beginnt mit fehlendem Bürokratieabbau und reicht bis Europa: Als die Kanzlerin in der Euro-Krise einen Sparkurs in den Krisenstaaten durchsetzte, schwächte sie die spanische oder italienische Volkswirtschaft als Absatzmärkte deutscher Firmen. Auch hier war es mit Olaf Scholz ein SPD-Minister, der in der Corona-Krise mit dem EU-Wiederaufbaufonds den Kurswechsel anstieß.

Nun treibt die deutschen Firmen etwas Neues um: Die Großmächte China und USA subventionieren ihren Firmen Innovationen oder räumen protektionistisch Märkte frei. Darauf muss die EU eine Antwort finden, die ihr größtes Mitglied Deutschland maßgeblich mitformulieren sollte: Wie viel teure Industriepolitik braucht es, damit Europas Firmen technologisch Schritt halten? Wie lässt sich die Handelsaggression kontern, die China trotz des Beitritts zur Welthandelsorganisation vor 20 Jahren pflegt und die die USA auch unter Joe Biden noch nicht ablegen?

Es warten auch enorme Finanzprobleme

Wer den fürsorglichen Sozialstaat für die Zukunft bewahren will, muss aber nicht nur für Wachstum sorgen, sondern auch auf die Statik des Ganzen achten. In 20 Jahren werden in Deutschland etwa ein Drittel mehr Ruheständler leben, aber ein Zehntel weniger Arbeitnehmer, die die Renten durch Beiträge finanzieren. Da warten enorme Finanzprobleme.

Die Regierung stellte Erwerbsunfähige besser und stockte niedrige Altersbezüge per Grundrente auf, was sozial ist. Auch das verdankt sich eher der Initiative der SPD als der passiven Kanzlerin. Deshalb trägt die SPD aber auch maßgeblich die Verantwortung für das, was versäumt wurde: Die Finanzprobleme des Alterssystems anzugehen.

Damit keiner benachteiligt wird, müssen nun alle ihren Beitrag leisten: Arbeitnehmer und Firmen durch höhere Beiträge, Rentner durch geringere Rentenerhöhungen, Steuerzahler durch höhere Staatszuschüsse, der Staat durch mehr Arbeitsanreize etwa für Mütter. Und, was gerne vergessen wird: die Beamten durch Einschnitte bei den Pensionen, die die Politik einfach unfinanzierbar vor sich hin wachsen lässt.

Investitionen, Bürokratieabbau, Europa, Innovationen, Handel und Sozialreformen: Es ist beängstigend viel, was der Stillstand der Merkel-Ära ihren Nachfolgern an Aufgaben aufbürdet.

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