Süddeutsche Zeitung

Bahngewerkschaft:"Wir mussten beweisen, dass wir's können."

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Von Detlef Esslinger

Was man jetzt gar nicht brauchen könnte: die üblichen Bahnbeschimpfer. Woran gewiss auch kein Bedarf besteht: an einem übel gelaunten, gar hektischen Zugchef, oder an einem dieser Durchsagemonster, die mitunter einen ganzen Bahnsteig zusammenstauchen, nur weil sich einer noch schnell durch die Zugtür zwingen will.

Aber dieser Zugchef hier, im IC 2263, der am Montagmittag in Stuttgart losgefahren ist, macht die Lage erträglicher: "Wenn alles gut geht, erreichen wir München Hauptbahnhof um 15.35 Uhr", gibt er durch; "wir werden versuchen zu retten, was vielleicht nicht mehr zu retten ist". Einen Speisewagen gebe es leider nicht. "Wir wünschen Ihnen, sofern dies noch möglich ist, eine gute Reise." Niemand rollt die Augen, was soll man sauer sein auf jemanden, der seine Kunden nicht mit 08/15-Sprüchen beschallt, sondern nur selber endlich ankommen will.

Warum die Gewerkschaft zum Warnstreik aufruft

Streiks gibt es bei der Bahn ja immer wieder; normalerweise ist es jedoch das Zugpersonal, das von seiner Gewerkschaft, der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL), zur Arbeitsniederlegung aufgerufen wird. An diesem Montag allerdings kam der Streikaufruf von der anderen, zahlenmäßig größeren Arbeitnehmer-Organisation, der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) - bei der man erst einmal im Archiv nachschauen muss, wann es so etwas das bisher letzte Mal gab. "März 2013", heißt es schließlich. Und damals auch nur zwei Stunden lang, von 6 bis 8 Uhr.

Warum ruft die EVG zum Warnstreik auf? Seit Oktober verhandelt die Organisation mit der Deutschen Bahn (DB) um einen neuen Tarifvertrag für die Beschäftigten des Konzerns. Vor der vierten Verhandlungsrunde, vergangene Woche in Hannover, hatte die Gewerkschaft erklärt, nun müsse ein Ergebnis her; andernfalls werde gestreikt. Dieser Punkt war am Samstagmorgen um 5.38 Uhr erreicht. Ein Plus von insgesamt 7,5 Prozent hatte die EVG gefordert, wobei die Beschäftigten wählen sollen, ob sie mehr Geld haben - oder einen Teil der Erhöhung lieber in zusätzliche freie Tage umwandeln wollen. Eine solche Regelung hatte die EVG bereits vor zwei Jahren ausgehandelt: eine Lohnerhöhung in zwei Stufen um insgesamt 5,1 Prozent. Die zweite Erhöhung betrug 2,6 Prozent, wahlweise sechs zusätzliche freie Tage.

Diese Zahlen sollte man sich einen Moment lang merken - um sie zu vergleichen mit dem Angebot, das die Bahn den Gewerkschaftern in Hannover machte. Es lautete: eine Lohnerhöhung um 5,1 Prozent, in zwei Stufen. Stufe eins: 2,5 Prozent; Stufe zwei: 2,6 Prozent, wahlweise sechs zusätzliche freie Tage. Daraufhin erklärte EVG-Bundesgeschäftsführer Torsten Westphal: "Wir kehren an den Verhandlungstisch zurück, wenn die DB deutlich macht, ernsthaft mit uns verhandeln zu wollen." Man hat richtig gelesen - Zahlen, auf die die EVG sich noch vor zwei Jahren mit dem Konzern einigte, dienen ihr nun als Beweis dafür, dass es an Ernsthaftigkeit fehle.

Was für eine Logik ist das? Verhandlungsführerin der EVG ist, wie seit Jahren, ihre stellvertretende Vorsitzende Regina Rusch-Ziemba. Sie begründet den Abbruch der Gespräche Samstagfrüh mit einer Bedingung, an welche die Bahn ihr Angebot gekoppelt habe: eine Laufzeit des Tarifvertrags von 29 Monaten - statt von 24, wie beim vergangenen Mal. Arbeitgeber lieben längere Laufzeiten, weil die ihnen Planungssicherheit geben. Gewerkschaften mögen sie nicht so sehr, weil es dadurch länger dauert, bis sie das nächste Mal Tariferhöhungen erstreiten können. Deswegen haben längere Laufzeiten bei ihnen immer einen Preis. Die EVG argumentiert, wenn die erste Stufe der Lohnerhöhung von 2,5 Prozent mit insgesamt 29 Monaten Laufzeit einhergehe, bedeute das eine Verschlechterung im Vergleich zu 2016. Hinzu komme, dass all diejenigen, die in der zweiten Stufe lieber sechs weitere freie Tage statt 2,6 Prozent bekommen möchten, sich damit bis Anfang 2021 gedulden sollten.

Erkämpfter Abschluss

An diesen Einwänden mag etwas dran sein. Aber ein Angebot ist immer nur ein Angebot, kein Abschluss. Und die DB-Vertreter um Personalvorstand Martin Seiler hatten ihrerseits ein Argument, warum sie die zusätzlichen freien Tage erst 2021 bewilligen wollen: Weil sie, allein um den Arbeitsausfall auszugleichen, 1500 neue Mitarbeiter finden und einstellen müssen. Also: Sind eine Diskussion um fünf Monate mehr Laufzeit sowie die Umsetzung einer Freie-Tage-Regelung ein Grund zum Streik?

Dazu muss man wissen: Wenn Gewerkschafter dazu aufrufen, machen sie zwar immer die Arbeitgeber verantwortlich. Aber manchmal brauchen sie den Streik, und seien es nur die fünf Stunden von Montag: um ihren Mitgliedern das Gefühl zu geben, sich den Abschluss erkämpft zu haben; um langjährige Mitglieder durch diese Gemeinschaftsaktion zu binden; um neue zu werben. Knapp 190 000 Mitglieder hat die EVG noch, seit Jahren fürchtet sie um ihre Eigenständigkeit. Als der Vorsitzende Alexander Kirchner vor acht Jahren ins Amt kam, sah er Anlass zu dem Versprechen, alles zu tun, damit er nicht derjenige Vorsitzende sein werde, "der das Licht ausmacht". Damals betrug die Mitgliederzahl noch 232 000.

Im Fall der EVG, der zweitkleinsten der acht DGB-Gewerkschaften, kommt noch etwas anderes hinzu: Sie muss sich immer auch gegenüber der GDL behaupten, mit der sie ums Zugpersonal rivalisiert. Von deren Chef Claus Weselsky wird sie seit Jahren als "Hausgewerkschaft" der DB bezeichnet, was nicht als Kompliment gemeint ist. Auch deshalb hat man am Montag, wenn man ein bisschen herumtelefoniert in der EVG, hinterher unter anderem den schönen Satz im Block stehen: "Wir mussten beweisen, dass wir's können."

Immerhin, das hat wohl geklappt. Auf "mehrere Tausend" beziffert die EVG die Zahl der Teilnehmer - was bemerkenswert wäre. Will die GDL einen Effekt erzielen, muss sie so viele der 19 000 DB-Lokführer wie möglich zum Streik bewegen. Der EVG hingegen, deren Schwerpunkt beim stationären Personal liegt, würden im Prinzip ein paar Dutzend Fahrdienstleiter reichen, um den Bahnverkehr lahmzulegen. Aber sie hat sich am Montag ausdrücklich nicht darauf beschränkt, nur eine Berufsgruppe oder nur in einer Region zum Streik aufzurufen. Folglich haben sich neben Fahrdienstleitern auch Reiniger, Disponenten, Bereitsteller, Ticketverkäufer und viele andere beteiligt - obwohl die Gewerkschaft kein Streikgeld gezahlt hat.

An diesem Dienstag soll nun wieder verhandelt werden. Nachdem die EVG während des Streiks als Bedingung dafür noch ein neues Angebot, und zwar ein schriftliches, genannt hatte, war ihr nach dessen Ende derlei nicht mehr so wichtig. Sie hat ihren Auftritt gehabt, und auch bei der Bahn verbreitete niemand Skepsis, oder gar Aufregung - wie zu Zeiten monatelanger GDL-Streiks.

Die Verhandlungen mit dieser Gewerkschaft gehen übrigens auch an diesem Dienstag weiter; Streiks der Lokführer stehen vorerst nicht zur Debatte. GDL-Chef Weselsky sagt zwar: "Am Dienstag ist Zahltag, eine nächste Runde wird es nicht geben." Aber zwischen GDL und DB gibt es ein Schlichtungsabkommen. In dem Moment, da Weselsky die Verhandlungen für gescheitert erklärte, könnte die Bahn die Schlichtung anrufen. Und solange die läuft, besteht Friedenspflicht.

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Quelle:
SZ vom 11.12.2018
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