Süddeutsche Zeitung

Abgasaffäre bei Audi:Was für ein verhängnisvoller Justizirrtum

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Der Kronzeuge im Prozess um die Abgasaffäre bei Audi muss weiter auf der Anklagebank schmoren. Das ist ein verheerendes Signal. Die Justiz kann einpacken, wenn das Auspacken nicht belohnt wird.

Kommentar von Klaus Ott

Ach, hätte Henning L. doch nur geschwiegen. Hätte er doch einfach nur den Mund gehalten statt auszupacken über die Abgas-Manipulationen bei der Volkswagen-Tochter Audi. Dann stünde der Chemiker und Techniker, weil die Behörden nicht genug über ihn gewusst hätten, bestimmt nicht wegen Betrugsverdacht vor Gericht - seit mehr als eineinhalb Jahren schon, zusammen mit dem früheren Audi-Chef Rupert Stadler und weiteren Angeklagten. Dann müsste sich der frühere Abteilungsleiter nicht sorgen, wie er im Falle einer Verurteilung wegen der Abgasaffäre seine Strafe zahlt, zudem die Anwalts- und Gerichtskosten. Da kommt einiges zusammen. Und wie er daneben noch die Ausbildung seiner drei Töchter finanziert. Mit einer Zwei-Drittel-Stelle bei Audi, weil er des Prozesses wegen nicht Vollzeit arbeiten kann.

Vergangene Woche hat die fünfte große Wirtschafts-Strafkammer des Landgerichts München II entschieden, dass Henning L. weiter, anders lässt sich das nicht werten, auf der Anklagebank schmoren muss. Der Verteidiger von L. hatte beantragt, das Verfahren gegen seinen Mandanten einzustellen, weil er ein Kronzeuge sei. Kronzeugen sind Mittäter, die reden, während andere noch schweigen, und die wertvolle Hilfe bei der Aufklärung leisten. Die Staatsanwaltschaft München II hat vor Gericht die Aufklärungshilfe von L. als geradezu "vorbildlich" gerühmt und den Antrag der Verteidigung wortreich unterstützt. Doch das Landgericht wollte sich einfach nicht überzeugen lassen.

Die Münchner Entscheidung ist ein schwerer Justizirrtum mit weitreichenden Folgen. Es ist ein verhängnisvolles Signal: Auspacken lohnt sich nicht! Die rasche und gründliche Aufklärung großer Skandale hängt oft davon ab, dass sich Insider finden lassen, die reden. So ist das bei den schwarzen Kassen und weltweiten Schmiergeldzahlungen von Siemens gewesen und in vielen anderen aufwendigen, sich lange hinziehenden Ermittlungsverfahren. Insbesondere auch im Cum-Ex-Steuerskandal, nachdem gesetzlose Banken und deren kriminelle Helfer den Staat um offenbar mehr als zehn Milliarden Euro betrogen hatten.

Staatsanwaltschaften in ganz Deutschland können sich nun, ironisch gesagt, beim Landgericht München II bedanken, wenn sie keine Kronzeugen mehr finden. Wenn es nicht mehr gelingt, Schweigekartelle zu durchbrechen, weil Verteidiger ihren Mandanten raten, zu schweigen. Und was nützt das Vorhaben von Bundesjustizminister Marco Buschmann von der FDP, sogenannte Whistleblower zu schützen, wenn die Justiz genau das Gegenteil praktiziert? Gar nichts! Buschmann, Staatsanwaltschaften und Gerichte können einpacken, wenn das Auspacken nicht gewürdigt wird.

Whistleblower sind Leute, die Missstände enthüllen, bevor Aufsichts- und Ermittlungsbehörden davon wissen. Und die bislang Gefahr laufen, von ihren Arbeitgebern gemobbt und gefeuert zu werden, wie der Fall der Altenpflegerin Brigitte Heinisch zeigt. Sie hatte schwere Missstände in einem Pflegeheim angezeigt, war schließlich fristlos entlassen worden und erst nach jahrelangem Kampf und erst beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu ihrem Recht gekommen. Ihr Arbeitgeber war übrigens ein kommunales Unternehmen gewesen.

Henning L. hat tiefe Einblicke in die Machenschaften bei Audi ermöglicht

Henning L. ist kein Whistleblower gewesen. Er hat erst geredet, als US-Behörden die Abgasaffäre beim Audi-Mutterkonzern VW bereits enthüllt hatten. Aber er hat dann nicht mehr gewartet, bis deutsche Staatsanwälte zu ihm kamen, sondern hat sich als Kronzeuge angeboten und anschließend tiefe Einblicke in die Machenschaften bei Audi ermöglicht. Und er hat das verhängnisvolle, von Druck geprägte Klima im Konzern zu Zeiten von Vorstandschef Stadler geschildert, der alle Vorwürfe zurückweist.

Die Staatsanwaltschaft München II hat dann den Fehler gemacht, ihren Kronzeugen mitanzuklagen. Und sie hat jetzt versucht, ihren Fehler wieder auszumerzen. Die Staatsanwaltschaft hat bei Gericht ausführlich geschildert, wie sehr der Ermittlungserfolg in großen und komplizierten Verfahren von "Wissensträgern" aus den jeweiligen Unternehmen abhänge, die sich selbst und andere belasteten. Aber nicht einmal davon hat sich das Landgericht in seiner harten, sturen und kurzsichtigen Haltung beirren lassen.

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