Süddeutsche Zeitung

Mode:Summer of Love

Lesezeit: 4 min

Wallende Kleider, Blumenmuster: Auch wenn niemand genau weiß, wie dieser Sommer wird, die Mode kommt gerade ihrer schönsten Aufgabe nach - Hoffnung wecken auf Ungezwungenheit.

Von Anne Goebel

Was für ein Spaziergang. Es geht über grellgrünes Moos, aus dem Boden sprießen absonderliche Pilzgewächse, an den Zweigen der Bäume tiefrote Beeren wie die verbotenen Früchte aus Grimms Märchen. Der Designer Raf Simons hat für seine Show für Frühjahr und Sommer 2021 die Models durch einen künstlich erbauten Zauberwald gelotst, in seiner Extravaganz nur durch das übertroffen, was sie am Körper trugen: Feencapes, überlange Ärmel, hypnotische Kreismuster auf Flatterhosen - eine ziemlich rauschhafte Ästhetik.

Das war im Oktober des düsteren Jahres 2020, und welche bessere Antwort hätte eine Modenschau in jenen Tagen geben können als: ie ganz große Illusion bitte, nichts als raus aus der Gegenwart? Sechs Monate später sind wir dem Ende der Pandemie in einigen Teilen der Welt zumindest näher gekommen. Aber eben nur näher. Und so wie damals viele den Eindruck hatten, dass ein irgendwie vergeudeter Sommer an ihnen vorübergezogen ist, fängt jetzt das Gefühl auf umgekehrte Weise wieder an zu rumoren. Es wird milder, es grünt und blüht - die warmen Tage und Nächte dürfen diesmal bloß nicht ungenutzt entwischen. Und die Designer liefern schon mal den passenden Stoff zur großen Erwartung: psychedelische Muster, Blumenprints, wallende Gewänder. Die Vorfreude hat nicht nur Raf Simons genährt, sondern viele andere Marken genauso, und ein griffiger Name für die kommenden Saison existiert natürlich auch schon: Summer of Love 2.0.

Endlich mal raus aus dem Kokon, ans Licht!

Klar kann man sich verlieben in die Entwürfe, was auch nicht besonders schwer ist nach Monaten der Enthaltsamkeit. Sweatshirt-Hellgrau, schlaffe Hosenbünde, in so was konnte man sich ohne große Ausreden regelrecht verpuppen während der vergangenen Monate. Die große Frage war, was schlüpft modisch gesehen aus den Kokons, wenn am Horizont langsam wieder die Aussicht auf ein Leben draußen auftaucht, also außerhalb der schützenden vier Wände, Balkonverkleidungen, Gartenhecken? Einige Trendforscher gehen für die Zeit nach Corona von einer kompensatorischen Rückkehr der rastlosen Zwanziger aus, das wäre dann die Zelda-Fitzgerald-Variante. Lauter schlagfertige Flappergirls im großstädtischen Garçon-Look. Für die kommenden Monate sieht es erst mal entspannter aus: nach Hippie-Picknick und zumindest ein bisschen Partywagen-Hedonismus.

Für Dior hat Maria Grazia Chiuri angemessen elegante Aussteiger-Looks entworfen, Lederwesten, Patchwork-Kleider, Taschen mit Troddeln. Bei Valentino tauchen Blütenmotive - das Flower-Power-Wahrzeichen - als Cut-outs im Minidress auf oder als dramatischer Großdruck auf bodenlangen Seidentuniken. Auch Batik, altbewährt als antibürgerlicher Sponti-Stoff, ist weiter mit dabei, veredelt zum Beispiel von Paul Smith, Proenza Schouler oder den Denimlooks von Alberta Ferretti. Vor ein paar Tagen hat Italiens gewiefteste Instagrammerin Chiara Ferragni in den blau schattierten Jeans posiert, das bringt das Frühlingsgeschäft doch gleich voran. Wobei es die schönsten Farbverläufe bei Dries van Noten gibt, auf Trägerkleidern, Badeanzügen oder Rüschenhemden mit romantischem Sgt.-Pepper-Anklang.

Und was den halluzinatorischen Raf Simons mit seinen Prints betrifft: Auch der Pariser Branchenliebling, die coole Marine Serre, ist gebannt von den Wirbelmustern, die schon in den späten Sechzigern als Op Art (von "optical", also optisch) die Blicke von Designern und Blumenkindern auf sich zogen. Eine erste Wiederkehr hatte es gut zwei Jahrzehnte später gegeben in Form des Magic-Eye-Trends während der Neunzigerjahre. Serre wandelt das ab in Halbmondmotive und vibrierende Netzstrukturen.

Happy, frei, dionysisch - danach sehnen sich gerade viele

So weit, so nostalgisch. Das Gegenwartsdesign plündert die Musterbücher der Vergangenheit, das ist in der Mode nichts Neues. Wer psychologisch ansetzen möchte, könnte die Vermutung anstellen: Gerade in einer extrem labilen Zeit, wie wir sie erleben, verschafft das Verankern in zurückliegenden Epochen ein Gefühl von Sicherheit. Die Londoner Kulturhistorikerin Caroline Stevenson glaubt eher, dass konkrete Analogien eine Rolle spielen. Sowohl der legendäre Summer of Love von 1967 in San Francisco - verklärt und verkürzt: eine einzige Musik-, LSD- und Flatterkleider-Protestparty - als auch die Geburt der Rave-Bewegung im Jahr 1989 ("Second Summer of Love") sind Synonyme für ungebremstes Feiern unter offenem Himmel. Happy, frei, dionysisch: Das sind die Assoziationen, vor allem, was den Beginn der Hippiekultur in Kalifornien betrifft, sagt die Historikerin am London College of Fashion.

Und genau danach sehnt sich die Welt auch heute, im zweiten Jahr der erschreckenden, trostlosen, lähmenden Pandemie. "Psychedelische Mode weckt diese nostalgischen Gefühle von Freiheit und Gemeinschaft. Die Erinnerung an lange Sommer, an Festivals und daran, den Menschen nah zu sein, die wir lieben", so Stevenson. Es sei also kein Wunder, dass die Designer versucht haben, mit ihren Kollektionen für den schon jetzt mit Erwartungen aufgeladenen Sommer 2021 exakt diese Stimmungen und Wünsche zu bedienen. Abgesehen davon, dass sich möglichst auffällige Prints in der Social-Media-Bilderschwemme einfach supergut einprägen.

Bei ihren Kollektionen für diesen Sommer knüpfen die Designer an den legendären Summer of Love 1967 an. Hier ein Entwurf von Dries van Noten.

Maria Grazia Chiuri greift diesen Gedanken für Dior mit Entwürfen auf, die lässige Ethno-Elemente kombinieren - natürlich angemessen elegant.

Bei Valentino kehren die wallenden Gewänder und Flower-Prints wieder. Darin spiegelt sich die Sehnsucht nach Ungezwungenheit und Lebensfreude.

Wenn es um farbenfrohe Drucke geht, ist Emilio Pucci legendär. Ein Bildband aus dem Taschen Verlag erinnert an seine psychedelisch gemusterten Stoffe.

Clogs sind ein typisches Accessoire aus dem Summer of Love, als junge Leute gegen starre Konventionen aufbegehrten. Hier Modelle von Hermès.

Denn natürlich geht es am Ende darum, Luxusmode zu verkaufen, so gut das eben zurzeit funktioniert. Die Fast-Fashion-Ketten haben ihr Angebot natürlich auch längst angepasst und bieten eine entsprechende Mischung aus Batik, langen Kleidern, Spitzenblusen und Trompetenärmeln. All der wogende Stoff, total unpraktisch natürlich - aber schön wie Natalie Wood barfuß im Hippiedress der Designerin Zandra Rhodes, unter Aficionados ein legendäres Foto aus der amerikanischen Vogue von 1970.

Im Moment scheint zumindest hierzulande einiges dafürzusprechen, dass ein bisschen mehr Lebenslust, etwas mehr Gelöstheit und vielleicht sogar der eine oder andere ausgelassene laue Abend drin sein könnte in den nächsten Monaten. Oder sicherheitshalber doch: Spätsommerabend? Falls es anders kommt, es gibt die ungezwungenen Retro-Looks auch häppchenweise, für alle, denen allzu euphorisches Shoppen leichtsinnig vorkommt. Clogs zum Beispiel feiern ein Comeback, sogar das distinguierte Haus Hermès hat ein gemustertes Paar im Sortiment. Alternativ kann man abwarten, ob das ausverkaufte Blümchen-Modell von Nicole Saldaña demnächst wieder lieferbar ist - und hat dann damit immerhin ein kleines Stück Summer of Love in der Garderobe. Oder gleich eine Anschaffung für die Ewigkeit: Passenderweise wurde gerade ein Bildband über Emilio Pucci wieder aufgelegt, den unbestrittenen König der Muster. Knallbunt, fünfeinhalb Kilo schwer, 200 Euro, aber: eine Augenweide, wie auch immer der Sommer wird.

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