Süddeutsche Zeitung

Fotografie:Der Himmel über Wien

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Göttergestalten, russische Schönheiten und ein sehr privater David Bowie: Die Bildwelten der österreichischen Fotografin Christine de Grancy.

Von Anne Goebel

Der Buchtitel "Über der Welt und den Zeiten" klingt entrückt, irgendwie schwebend, auch ein bisschen sentimental, kurz, ziemlich weihnachtlich. Darum geht es schließlich auch in den nächsten Tagen: Tür zu, Alltag bitte gerne draußen bleiben. Keine Ampelnachrichten, kein Hello-Fresh-Bote, keine sauschweren Pakete für die Nachbarn. Und die Fotos von Christine de Grancy, die ihrem neuen Band diesen Titel gegeben hat, eignen sich genau dazu ideal: zum Abtauchen in eine harmonische, wohltuend menschenleere Bilderwelt. Dachlandschaften, Engelsflügel und steinerne Götzen aus Wien, der gefühligsten Stadt der Welt. Großartig. Noch ein Schluck Tee, weiterblättern, man betrachtet die Schönheit versunkener Größe.

Ganz so vergangenheitsselig verhält es sich aber nicht, jedenfalls nicht, was Christine de Grancy betrifft. Die famose Fotografin, mit weißer Lockenmähne und vom Magazin Photo zu einer der 100 Besten ihrer Zunft gekürt, wird zwar demnächst achtzig, ist aber äußerst lebendig, auch wenn sie nicht mehr wie früher auf die höchsten Dächer klettert. Dass ihr Telefon just zum Zeitpunkt des vereinbarten Gesprächs ein penetrantes Knistern von sich gibt, kommentiert die Wienerin mit leisem Spott. "Da denkst, analog ist eh besser" - von wegen, man steigt auf Mobilfunk um. Worin natürlich eine hübsche Ironie liegt bei der Verabredung mit einer überzeugten Schwarz-Weiß-Fotografin. Auch das macht ihr Buch besonders: der Verzicht auf Farbe, das ist mittlerweile eine Seltenheit. "Schwarzweiß signalisiert eine ganz andere Ernsthaftigkeit und Konzentration", sagt sie. Pseudokünstler, die sich mit der "Monochrom"-App auf dem Smartphone interessant machen, gibt es schon genug.

Und wahrscheinlich ist Schwarz-Weiß auch die einzig angemessene Sphäre für Götter, und die sind Christine de Grancys großes Thema. Nicht erst in dem aktuellen Buch - das zum Teil ältere Arbeiten neu arrangiert -, sondern schon früh in ihrer zweiten Karriere war die gelernte Keramikerin und Grafikerin fasziniert vom Überirdischen: den geflügelten Wesen, donnernden Patriarchen, klugen Frauen der griechischen und römischen Sagenwelt, schließlich war sie in Wien von ihnen umgeben. Sie bevölkern Portale, Kuppeln, Gesimse, "ich glaube, es gibt keine europäische Stadt", sagt de Grancy im leichten Singsang, "die so exzessiv mit dieser Götterwelt hantiert wie Wien". Durch die Ringstraße zwischen Burgtheater, Heldenplatz und Karlskirche weht sozusagen permanent himmlischer Atem.

Hantieren ist schön gesagt, weil darin einerseits das Zweckdenken der Erbauer zum Ausdruck kommt - in der Regel will sich jemand mit einem Apoll oder Zeus auf dem Dach ja selbst ein Denkmal setzen. Und der Begriff zeigt außerdem, dass die Kolossalgestalten für sie selbst gar nicht kolossal sind, sondern eigentlich ganz handsam, nahbar und vor allem "wahnwitzig menschlich", wie sie sagt. Das heißt, die Götter und Göttinnen sind eitel, manchmal lächerlich, verrennen sich, machen Riesenfehler - die klassische Sagenwelt steckt voller Geschichten vom Scheitern. Und genau so hat de Grancy sie auch fotografiert, furchtlos auf den höchsten Stiegen und Balustraden: unheroisch.

Mal sieht das verwitterte Gesicht eines Siegers aus der Nähe eher melancholisch aus, mal nimmt ein Putto mit feistem Babypo einer todernsten Figurenriege hoch über dem Karlsplatz die Feierlichkeit. Und wenn Bauarbeiter die Göttin Fama mit schweren Ketten von der Hofburg abseilen zwecks Renovierung, ist es sowieso vorbei mit der Dignität. Großartig auch das Bild, auf dem Nike mit ihrem Triumphwagen durch ein flatterndes Gerüstnetz zu preschen scheint. "Über der Welt und den Zeiten", erschienen im Verlag "Die Zwei", ist deshalb nur vordergründig ein Buch über imperiale Pracht. Eigentlich geht es um das Kleine im Großen. Das passt gut in unsere Zeit, die nicht besonders geeignet ist für Heldensagen. Christine de Grancy hat Apollon und Pallas Athene schon lange von den Dächern geholt. Aber schön sind sie bei ihr immer noch.

Die Frage der Perspektive habe sie, erzählt Christine de Grancy, "immer schon beschäftigt, seit ich fotografiere". Nicht allein im künstlerischen Sinn mit der Suche nach den richtigen Bildausschnitten und Proportionen. Sondern was die Balance zwischen Macht und Ohnmacht betrifft, zwischen oben und unten. Sie habe sich den Menschen, die sie vor allem auf ihren großen Reportagereisen durch Russland, Asien oder afrikanische Länder fotografierte, immer auf Augenhöhe genähert. "Ich bin die mit der Kamera, also die Stärkere. Das wollte ich nie ausnützen", sagt de Grancy. Selbst die thronende Maria Theresia als kaiserliches Monument verliert bei ihr das Unnahbare und wirkt menschlich, fast nackt, was vielleicht auch an dem unbekleideten Sonnengott Helios im Hintergrund liegt.

Die Zurückhaltung der Fotografin beginnt schon bei der Ausrüstung. Statt sich auf massige Objektive zu verlassen, ist sie lieber mit der kompakten Leica M unterwegs. Und kommt auf ihren Bildern der Mutter in Niger, die ihrer Tochter für ein Fest stolz die Haare flicht, genauso nah wie chinesischen Fabrikarbeiterinnen und der Burgtheater-Diva Erika Pluhar. Oder den Schönheiten im Pelz in Russland, vier Mannequins, die gleich für Aufnahmen in die etwas schäbige Fabrik im Hintergrund stolzieren werden, aber erst posieren sie für die Reporterin aus Österreich. "Das war ein besonderer Moment, ich war bezaubert von ihnen. Und sie anscheinend von mir", erinnert sich de Grancy. Das Foto hat mehr Atmosphäre, Intensität und Coolness als jedes Modeshooting zustande bringen könnte.

Das Unterwegssein, die Vielfalt der Sujets, die Neugier auf Begegnungen: Wahrscheinlich, meint sie selbst, hat das auch mit ihrer eigenen Biografie zu tun. "Im Grunde war ich mein ganzes Leben auf Reisen." Geboren 1942 in der damaligen Tschechoslowakei als Kind einer Berliner Mutter und eines österreichischen Vaters, kam sie nach dessen Tod kurz vor Kriegsende über Umwege durch die Lüneburger Heide und Bayern zur Großmutter nach Graz. Das Leben dort sei ihr als junges Mädchen eng und beklemmend vorgekommen, "das war damals eine braune Stadt". Sie ging Anfang der Sechzigerjahre nach Wien, fand Kontakt zu Malern, Schauspielern, Lebenskünstlern, "wir waren ein aufmüpfiger Freundeskreis", erzählt sie. In den Siebzigerjahren beginnt sie zu fotografieren, unter anderem am Burgtheater. Ihre Arbeiten hat Christine de Grancy in zahlreichen Büchern veröffentlicht und in Ausstellungen in Hamburg, New York oder beim Fotofestival in Perpignan gezeigt.

Einer der vielen Höhepunkte in ihrem Künstlerinnenleben war die Begegnung mit David Bowie 1994, wobei sie darüber äußerst gelassen spricht. Immerhin, ein Superstar, aber es war ein sehr spezielles Zusammentreffen, und es wurden auch keine Superstar-Fotos. André Heller, mit dem de Grancy eine lebenslange Freundschaft verbindet, hatte den Sänger zu einer Fahrt in den kleinen Ort Gugging eingeladen, ein Zentrum der Art-Brut-Bewegung und bekannt für die künstlerischen Arbeiten von Patienten einer Nervenheilanstalt. Die Fotografin begleitete den Ausflug, über Bowie verliert sie nicht viele Worte. "Er war nett, freundlich, ohne Allure." Die Fotos sind umso eindrucksvoller. Sie zeigen den damals 47-Jährigen in der Begegnung mit den Künstlern, Bowie wirkt konzentriert, zurückhaltend, fast scheu. Dazu passt, dass Christine de Grancy die Fotografien jahrzehntelang unter Verschluss hielt, auch nach dem Tod des Sängers 2016. Erst ein Jahr später zeigte sie die Bilder in einer Wiener Galerie. Sie fand, das war genau der richtige Zeitpunkt. "Manchmal ist es gut, wenn Dinge eine Weile liegen bleiben."

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