Süddeutsche Zeitung

Corona-Etikette:Bleibt mir vom Leib, bitte

Lesezeit: 3 min

Wie umtänzelt man sich angemessen? Ist Abstandhalten unhöflich? Und darf man beim Spazierengehen noch grüßen? Benimmfragen einer neuen Zeit.

Von Christian Mayer

Was passiert, wenn die alten Reflexe der Höflichkeit nicht mehr funktionieren, kann man täglich erleben, zum Beispiel beim Lieblingsbäcker in München. Dort arbeiten drei wunderbare Verkäuferinnen, die mit Witz, Charme und stoischer Ruhe den Laden im Griff haben.

In normalen Zeiten besänftigen sie unruhige Kunden, denen es sonntags in der Schlange nicht schnell genug geht, sie ertragen den Angriff der Wespen im Herbst und die nachsichtigen Eltern, deren Kinder gerne auf das Brett vor der Auslage steigen, um mit beiden Händen auf die Glasscheibe zu patschen. Auch jetzt machen die Verkäuferinnen beim Lieblingsbäcker einen fabelhaften Job, indem sie einerseits die neuen Hygienevorschriften sorgfältig beachten und andererseits für jeden ein aufmunterndes Wort haben.

Bei den Kunden des Lieblingsbäckers gibt es dagegen eine erstaunliche Bandbreite an Verhaltensmustern: Während viele höflich Abstand halten und elegant zur Seite tänzeln, wenn jemand gerade den Laden verlassen möchte, sind andere sichtlich nervös und zuweilen latent aggressiv. "Einige treten einfach die Tür mit ihren Füßen auf, weil sie Angst vor dem Griff haben, oder beschimpfen andere im Laden, die nicht sofort wegspringen", erzählt eine Verkäuferin fassungslos. Das mit dem Zur-Seite-Tänzeln fällt älteren Leuten schwerer als jüngeren, wofür man ebenfalls Verständnis haben sollte.

Sich andere vom Leib halten - aber höflich

Vielleicht ist Höflichkeit gerade wichtiger denn je. Einige bewährte Regeln müssen allerdings an die Umstände angepasst werden. Tür aufhalten zum Beispiel: Geht nur, wenn es eine Automatik gibt, um den Mindestabstand einzuhalten. Anderen helfen, wenn schwere Getränkekisten ins Auto gewuchtet werden müssen: eigentlich kein Problem, wenn man sich danach die Hände wäscht. Ein paar Rollen Klopapier an die Nachbarn abgeben, die leer ausgegangen sind: ein Akt der Freundlichkeit, der fast nichts kostet, aber das Gewissen erleichtert.

Was gutes Benehmen unter erschwerten Bedingungen bedeutet, kann man von den Angestellten der Supermärkte lernen. Nicht nur von den tapferen Kassiererinnen am Band, auch von den Menschen, die stündlich die leeren Regale auffüllen und viel seltener die Nerven verlieren als manche Kunden, deren Reizbarkeit daran zu erkennen ist, dass sie keine Zeit für ein freundliches Wort haben, wenn ihnen ein Mitarbeiter die letzten Hafermilch-Packungen verschafft. Besonders Eilige nutzen ihren Einkaufswagen als Kontaktvermeidungsgerät, eine effektive, aber eher grobe Methode des social distancing.

Verhaltensregeln mit gesundem Menschenverstand

Die große Gereiztheit spürt man auch anderswo. Auf Elternforen oder Schul-Plattformen etwa, wo man die Kommentare aufgebrachter Mütter und Väter nachlesen kann, die sich im Dickicht der digitalen Kanäle des täglichen Lernprogramms für die Kinder verheddern. Generell sollte man in diesen Zeiten etwas leiser poltern als sonst und lieber mal einen Wutausbruch runterschlucken, auch wenn das neue Unterrichtsmodell neben den vielen zusätzlichen Home-Office-Anforderungen eine Last ist. Wer aber in den anderen, ob Lehrer, Eltern oder Politiker, nur Idioten sieht, sollte eines der vielen neuen Webseminare für Entschleunigung und kraftspendendes Durchatmen besuchen.

Der Fairness halber muss man feststellen: Die Mehrheit der Leute verhält sich in der Corona-Krise ziemlich zuvorkommend. Zugleich ist bei vielen eine Unsicherheit, eine Beklommenheit zu spüren, was den zwischenmenschlichen Umgang betrifft. Man will ja bloß nichts falsch machen! Fast schon verschämt nickt man sich auf der Straße zu, wenn man das neue Grundrecht auf frische Luft in Anspruch nimmt, einige absolvieren ihre einsamen Rundgänge mit starrer Miene und nach vorne gerichtetem Gesicht.

Obwohl der Virologe Christian Drosten versichert, dass die Ansteckungsgefahr im Freien eher gering ist. Drosten hält das Tragen einer Gesichtsmaske übrigens für einen Akt der Höflichkeit, aber nur dann, wenn man selbst niest oder hustet - und theoretisch Tröpfchen weitergeben könnte. Das sinnlose Horten von Gesichtsmasken zu Hause verstoße dagegen gegen alle Anstandsregeln, weil sie in den Krankenhäusern dringender gebraucht werden. Also am besten eine Maske selbst basteln oder den Schal dreifach um den Mund wickeln. So viel zur neuen Corona-Etikette, die viel mit gesundem Menschenverstand zu tun hat.

Gutes Benehmen: Das war immer schon die Fähigkeit, einen Schritt zurückzutreten. Man nannte das nur nicht Mindestabstand.

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SZ vom 28.03.2020
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