Süddeutsche Zeitung

DFB-Elf:Misstrauen gegenüber dem Konstrukt

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Die stumme Atmosphäre beim Spiel der Nationalmannschaft in Wolfsburg zeugt von Vorbehalten. Die junge Mannschaft hat an den (Alt-)Lasten keine Schuld - wird aber noch daran zu tragen haben.

Kommentar von Philipp Selldorf

Es war ein Neustart, wie man ihn sich nur wünschen konnte, und dennoch waren alle überrascht, welche Begeisterung er im Stadion auslöste. So begeisterungsfähig kannte man das Publikum im Flachlandstaat Niedersachsen gar nicht, dem Bundestrainer waren die Ovationen fast peinlich, zumal da sie vor allem ihm selbst galten. Andererseits tat dieser Beifall natürlich gut nach dem missratenen Turnier, das nach nationalem Selbstverständnis ein Mal der Schande hinterlassen hatte, und diese wunderbare Stimmung im Stadion war nun zweifellos die beste Erfahrung nach all den pessimistischen Expertenäußerungen über den Stand des deutschen Fußballs und dessen Perspektive.

Ja, so war das damals im August 2000, als Rudi Völler nach der sagenhaft schief gegangenen Europameisterschaft per Notstandsbeschluss zum Teamchef der Nationalmannschaft bestimmt worden war und beim 4:1-Sieg gegen Spanien in Hannover seinen Einstand feierte.

Niemand rief: "Es gibt nur ein' Jogi Löw"

Nicht ganz 19 Jahre später, lediglich 80 Kilometer entfernt im nämlichen Bundesland Niedersachsen, fiel der Neubeginn der aktuellen Nationalmannschaft nicht ganz so zauberhaft aus. Es gab Pfiffe zur Pause und mitten im Programm immer wieder missmutiges Raunen, und niemand rief: "Es gibt nur ein' Jogi Löw", obwohl doch auch dieser Bundestrainer - auf seine Weise - einmalig ist wie der unvergleichliche Rudi Völler.

Dass Joachim Löw in Wolfsburg nicht gefeiert wurde, das lag nicht nur am tendenziell unbefriedigenden Ergebnis im Testspiel gegen Serbien (1:1) und an einer Partie, die nur phasenweise die Ansprüche erfüllte. Mancher deutsche Fußballfan hätte wohl dem Bundestrainer ebenfalls jenen Ruhestand gegönnt, den dieser den Helden Hummels, Boateng und Müller unlängst und dem Helden Khedira schon länger verordnet hat.

Wenn es um Alterseffekte geht, dann ist Löw den frühpensionierten Fußballern weit voraus. Seit bald 13 Jahren steht er der Nationalelf vor, das ist eine sehr lange Zeit in einem Amt, das öffentlicher kaum sein könnte, und wie in vielen anderen Belangen tut sich auch hier eine Analogie zu Angela Merkel auf. Aus allzu eingeübten Seh- und Hörgewohnheiten ist im Publikum ein gewisser Überdruss entstanden, und so kommt es nicht mehr so sehr darauf an, was Merkel bzw. Löw tun - es wird sowieso erst mal skeptisch oder sogar gleich ablehnend bewertet.

Von der Stimmung, die den Bundestrainer umgibt, bleibt seine junge Mannschaft nicht unbeeinflusst. Wolfsburg ist zwar nur bedingt ein repräsentativer Standort, doch es ist auch kein Niemandsland im Fußball-Staat. Die stumme Atmosphäre zeugte von Vorbehalten. Diese haben weniger damit zu tun, dass die neue deutsche Abwehrreihe noch einige Sicherheitsmängel aufweist und der Angriff an der Abwesenheit eines Torjägers leidet. Sondern mit dem Misstrauen gegenüber dem Konstrukt mitsamt dem Überbau, zu dem auch der DFB und sein Präsident Reinhard Grindel gehören. An diesen (Alt-)Lasten hat die junge neue Mannschaft keine Schuld, aber sie wird noch eine Weile daran zu tragen haben.

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SZ vom 22.03.2019
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