Süddeutsche Zeitung

Russland bei der Fußball-WM:Kirmestruppe a.D.

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Von Holger Gertz, Sankt Petersburg

Wer nach dem Spiel schnell nach Hause wollte, mit der grünen Metro-Linie 3, hatte keine Chance. Schon am Petersburger Fußballstadion staute sich alles, die Station Novokrestovskaya lief geradezu über vor Menschen, und wer trotzdem im Gewühl und mit letzten Kräften seinen Platz im Metro-Abteil erkämpft hatte, kam im Gewühl auch wieder raus, drei Stationen weiter, Haltestelle Gostiny Dwor, ganz nah beim Fanfest. Dort begegneten diejenigen, die das 3:1 der Russen gegen Ägypten live im Stadion gesehen hatte, denen, die es nur von der Leinwand kannten, also gab es jede Menge zu bereden und zu bejubeln und zu betröten und zu begießen. Es traf sich bestens, dass in Sankt Petersburg zu dieser Jahreszeit die Nacht quasi abgeschafft ist, weil die Sonne praktisch nicht untergeht.

Und es hatte sich schon vorher exzellent getroffen, dass auf dem Platz weniger Gedränge herrschte als draußen im öffentlichen Personennahverkehr. Die Ägypter, also das "Team Mohamed Salah", hielten in der ersten Halbzeit dieser Vorrundenpartie ordentlich mit und rückten den Russen dann zu Beginn der zweiten Halbzeit nicht entschlossen genug auf die Pelle. Eigentor von Ahmed Fathi (47.) Denis Tscheryschew in der 59. Minute und Artjom Dsjuba in der 62. legten zum 3:0 nach, und der große Meister Salah bekam nur noch Gelegenheit, per Elfmeter zu verkürzen.

Die starken Russen, vor dem Turnier als eine Art Kirmestruppe gehandelt, sind nach zwei Spielen praktisch in der nächsten Runde, mit sechs Punkten und 8:1 Toren, und die Fußballhistoriker müssen in ihren speckigen Ergebnisbüchern schon sehr weit zurückblicken, um eine ähnlich eindrucksvolle Zwischenbilanz eines Gastgebers zu finden. 1934 in Italien startete - die Älteren kriegen noch heute feuchte Hände beim Erinnern - der Gastgeber ebenfalls mit 8:1 Toren nach zwei Spielen und trat seine Reise zum Titel an. Eine Reise, die noch vergleichsweise überschaubar war, nach zwei Wochen war die WM damals zu Ende.

Tschertschessows Botschaft an die Welt

Die Russen allerdings sind vorbereitet auf eine längere Fahrt bei diesem Turnier, das merkt jeder, der nach dem Spiel dem Trainer zuhört, Stanislaw Salamowitsch Tschertschessow, ein ehemaliger Torwart, unter anderem bei Dynamo Dresden. Tschertschessow ist zugleich modern wie traditionsbewusst, bei der Teampräsentation des deutschen Kaders im Dortmunder Fußballmuseum im Mai wurde er als Hologramm auf die Bühne gebeamt.

Seine Spielanalyse dagegen, vorgetragen mit Bärencharme, klingt nach alter Zeit. "Sie hatten so viele Probleme mit Verletzungen vor dem Turnier. Sind sie überrascht, wie schnell sich das Team jetzt gefunden hat?", will ein Journalist wissen, und Tschertschessow sagt: "Sie haben das Wort Problem genannt - wir mögen dieses Wort nicht, wir haben es nicht in unserem Vokabular. Wir haben verschiedene Aufgaben, und die müssen bewältigt werden. Wir waren vielleicht nicht so erfolgreich in der Vergangenheit, aber wir haben aus unseren Fehlern gelernt." Aus den Fehlern lernen, so einfach ist das also. "Ist das der glücklichste Tag in ihrem Leben?", fragt einer, Tschertschessow sagt: "Ich hoffe, es werden noch viele andere kommen."

Nur einmal weitet einer der Reporter den Blick, ein Norweger fragt nach neuen Berichten über mutmaßliches Doping im russischen Fußball und einer womöglich vertuschten Probe des ehemaligen Nationalspielers Ruslan Kambolov. "Was ist Ihre Botschaft an die Welt in dieser Angelegenheit?" Tschertschessow sagt: "Dies ist eine Post-Match-Pressekonferenz, oder? Wenn sie eine Frage zu dem Spiel haben, das gerade zu Ende gegangen ist, werde ich sie gern beantworten." Seine Botschaft an die Welt? Sein Team wird aus allem Energie saugen, auch aus Angriffen von außen. In den speckigen Geschichtsbüchern des Fußballs steht, dass dieser psychologische Kniff schon oft geholfen hat.

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