Süddeutsche Zeitung

WM-Kader-Nominierung:Löws neue Radikalität

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Von Ulrich Hartmann, Dortmund

In der "Schatzkammer" des Deutschen Fußballmuseums stehen vier WM-Pokale, errungen von deutschen Mannschaften bei den Weltmeisterschaften 1954, 1974, 1990 und 2014. Ob bald eine fünfte Trophäe hinzukommt, hängt von der Leistung jener Fußballer ab, die Bundestrainer Joachim Löw am Dienstag im Souterrain des Museums präsentierte. 27 Spieler gehören zum vorläufigen Kader, vier von ihnen muss Löw bis zum 4. Juni streichen. Der Münchner Torwart Manuel Neuer gehört zunächst ebenso dazu wie der Leverkusener Abwehrspieler Jonathan Tah, der Dortmunder Angreifer Marco Reus und - als Überraschung - der Freiburger Stürmer Nils Petersen. Nicht berücksichtigt hat Löw den Dortmunder Angreifer Mario Götze, den Liverpooler Defensivmann Emre Can und den Münchner Stürmer Sandro Wagner. "Als Bundestrainer muss ich manchmal leider Träume platzen lassen", sagte Löw.

Zwei Spieler standen im Vordergrund dieser Nominierung, auch in den Tagen zuvor. Nicht ganz zufällig waren es zwei alte WM-Helden. Es ging vor allem um Mario Götze, den Siegtorschützen im Finale 2014 von Rio, der danach seinem Ruf als künftiger Popstar des deutschen Fußballs nie gerecht wurde. Und es ging um Manuel Neuer, der in Brasilien der Mann auf dem Weg ins Finale war, mit seinen Ausflügen bis zur Mittellinie im Achtelfinale gegen Algerien, mit seinem überweltlichen Einarm-Reflex im Viertelfinale gegen Frankreich. Neuer gilt weiterhin als bester Torwart der Welt, mit der Einschränkung: wenn er gesund ist. Und momentan weiß die gesamte Welt und nicht einmal Löw so richtig, ob Neuer nach einem Mittelfußbruch bis zur WM fit wird. An diesen beiden Spielern zeigt sich also, welche Mischung aus Verdiensten und aktuellen Leistungen Löw wählte. Der Bundestrainer hat angedeutet, dass er radikale Entscheidungen in diesem Sommer nicht scheut.

"Es hängt manchmal an Kleinigkeiten", entschuldigte er umstrittene Entscheidungen - zum Beispiel im Fall Götze und Wagner. "Es war nicht die Saison von Mario Götze", erklärte Löw, warum der 25-Jährige nicht dabei ist. Dagegen sagte Löw über seine Entscheidung gegen Wagner: "Manchmal hat man nicht die guten Argumente." Emre Can wiederum sei nach wochenlanger Pause "kein Thema" gewesen. Wichtig war Löw zu betonen: "Auch die, die nicht mitfahren, sind gute Fußballer."

Über das Potenzial von Götze würde Löw ohnehin nie ein kritisches Wort verlieren. Über ihn könnte er auch sagen, was er über den nominierten Marco Reus sagte: "Er hat besondere Gaben in Form von Torabschluss, Schnelligkeit, Instinkt, seinem Gefühl für Räume und einer hohen Spielintelligenz." Allerdings habe Götze "das, was er normalerweise bringen kann mit seiner Qualität, nicht gezeigt", sagte Löw nüchtern. "Diese Saison war er wahrlich nicht in der Form." Er hoffe, sagte Löw noch, dass Götze in der kommenden Saison ein neuer "positiver Beginn" gelinge. "Es tut mir für ihn leid, weil ich weiß, was er in den vergangenen Jahren geleistet hat." Götzes Schuh, mit dem er Deutschland vor vier Jahren in Rio de Janeiro zum Titel geschossen hat, steht übrigens im Fußballmuseum in einer Vitrine.

Eigentlich ist der Bundestrainer ja durchaus treu, in den vergangenen Jahren nominierte er stets Lukas Podolski, wegen dessen Verdiensten, auch wegen dessen Gespür für die Truppe. "Neben der sportlichen Qualität ist auch das stimmige Gesamtbild ein Entscheidungskriterium", sagte Löw. Und für die Stimmigkeit ist Kapitän Neuer ein bedeutsamer Spieler. Auch deshalb hat Löw ihn in den erweiterten Kader berufen, obwohl der Torwart seit acht Monaten kein Pflichtspiel mehr gemacht hat und vor der WM womöglich auch kein Pflichtspiel mehr absolvieren wird. "Wir haben in den vergangenen Wochen fast jeden Tag Informationen ausgetauscht", berichtete Löw, "wir nehmen ihn mit ins Trainingslager, weil er diese Woche voll ins Training bei Bayern München eingestiegen ist und weil das bedeutet, dass er ab der kommenden Woche auch bei uns die volle Belastung toleriert." Er wolle sich selbst ein Bild machen. "Am Ende des Trainingslagers müssen beide Seiten ganz offen und ehrlich miteinander sein, und ich kann sagen: Ohne Spielpraxis kann Manuel Neuer nicht in das Turnier gehen."

Im Moment sehe es gut aus, sagte Löw, Neuers Verletzung sei "vollständig verheilt". Aber die entscheidende Frage sei: "Ist er in der Lage, seine gewohnte Topleistung auch abzurufen?" Damit wird die Partie am 2. Juni in Klagenfurt gegen Österreich zum ultimativen Test. Kann Neuer dort mit maximaler Belastung spielen, dürfte er anstelle von Kevin Trapp nach Russland mitfahren. Ob Neuer dann als Nummer eins oder als Nummer zwei hinter Marc-André ter Stegen mitfahren würde? Darüber spekulierte Löw nicht. Er sagte bloß: "Sollte sein Einsatz in der Vorbereitung aufgrund körperlicher Probleme nicht möglich sein, dann kann er beim Turnier nicht spielen." Löw klang am Dienstag so, als sei er mittlerweile entschlossen, Neuer im Zweifelsfall zu Hause zu lassen. "Der Manu", sagte Löw, "der hat schon mehrere große Turniere gespielt und würde auch selbst sagen, wenn er sich nicht in der Lage fühlen sollte, eine Weltmeisterschaft zu spielen."

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SZ vom 16.05.2018
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