Süddeutsche Zeitung

Kreuzbandriss bei Florian Wirtz:Das pure Unglück

Lesezeit: 3 Min.

Die schwere Knieverletzung von Ausnahmetalent Florian Wirtz trifft den Spieler und seinen Verein Bayer Leverkusen hart. Und mehr noch: Auch die WM in Katar im November gerät für Wirtz in Gefahr.

Von Philipp Selldorf, Leverkusen

Rudi Völler verlor keine Zeit, nachdem Florian Wirtz auf der Trage vom Feld gebracht worden war. Bayer Leverkusens Sportdirektor setzte Prioritäten, ließ das Derby Derby sein und eilte zum Patienten in die Kabine. Er wusste, dass er jetzt nichts Wesentliches beitragen konnte, doch es ging um die Geste: um Anwesenheit, um Beistand und Anteilnahme für den 18-jährigen Wirtz, der augenscheinlich mehr als eine Alltagsverletzung erlitten hatte. Der besorgniserregende Eindruck, den Völler schon von der Tribüne aus gewonnen hatte, deckte sich mit den Schilderungen des Betroffenen. "Wie er's beschrieben hat, wie es ihm aus der Bewegung hinten reingezogen ist - die Anzeichen waren schon deutlich. Florian wusste, dass etwas kaputtgegangen ist", sagte Völler.

Während die Partie in die zweite Halbzeit eintrat, fuhr Wirtz mit seinen Eltern ins Krankenhaus, wo die Aufnahmen der Kernspintomografie aus der Ahnung Gewissheit werden ließen. Keine anderthalb Stunden nach dem Abpfiff des 0:1 verlorenen Spiels gegen den 1. FC Köln teilte Bayer Leverkusen mit: "Kreuzbandriss - Florian Wirtz fällt lange aus." Mit sieben, acht Monaten Spielpause ist zu rechnen.

Mancher Kölner Fan im Gästeblock hätte sich seine überflüssigen Zwischenrufe womöglich gespart, wenn er das Ausmaß der Blessur gekannt hätte. So aber musste Wirtz während der Sofortbehandlung auf dem Rasen nicht nur mit dem Schmerz und dem Schock fertig werden, sondern auch mit hämischen Kommentaren aus dem Anhang des Vereins, für den er seit Kindertagen fast zehn Jahre leidenschaftlich gespielt hatte. Als Siebenjähriger war Wirtz zum FC gekommen, Anfang 2020 wechselte er der besseren Perspektiven wegen zu Bayer 04, und seitdem verfolgen ihn einige Kölner Fans mit ihrer speziellen Abneigung: Weil er zum ungeliebten Lokalrivalen gegangen ist, vor allem aber deshalb, weil er so ein außerordentlich begabter und wertvoller Spieler ist.

Auch Hansi Flick nimmt Anteil: "Florian Wirtz ist eines der größten Talente des deutschen Fußballs."

Kölns Trainer Steffen Baumgart verurteilte das Verhalten jener FC-Fans. Wirtz' Verletzung sei "traurig für ihn, traurig für uns alle - so etwas höhnisch zu begleiten, ist nicht in Ordnung". Weitere Schuldzuweisungen erübrigten sich nach dem durchaus hitzigen Aufeinandertreffen der konkurrierenden Nachbarklubs. Kölns Verteidiger Luca Kilian, der Wirtz im Zweikampf abgedrängt und mit einem Check aus der Balance gebracht hatte, brauchte sich wegen seines Einsteigens nicht zu rechtfertigen. Es gab keine Vorwürfe gegen ihn. "Das war einfach nur Pech", sagte Völler, "Florian versucht dem Gegenspieler auszuweichen und kommt dann blöd auf, reines Unglück, da konnte keiner was für."

In den Dispositionen von Trainer Gerardo Seoane hat Wirtz während dieser Saison konstant den Mittelpunkt des Spiels gebildet: Mit seinen 18 Jahren war er bereits der führende Kopf in der Mannschaft, ein Spielfeld-Chef, der für seine führende Rolle keinen Wahlkampf machen musste, sondern sich mit seinen Fähigkeiten selbstverständlich dafür qualifizierte. Auch gegen Köln arrangierte Wirtz bis zu seinem Ausscheiden nahezu sämtliche torgefährlichen Momente in der Leverkusener Offensive. Von seiner Auswechslung profitierten die Kölner, die Baumgart später als "die glücklicheren, nicht die besseren Sieger" bezeichnete.

Für Bayer 04 geht es jetzt offenbar darum, nicht so laut über den Verlust des Spielmachers Wirtz zu klagen, dass es in der Spielerkabine Wirkung hinterlässt. Durch die unplanmäßige Niederlage gegen Köln ist es im Kampf um die Champions-League-Plätze wieder spannend geworden, der Mitte November scheinbar dauerhaft in Besitz genommene dritte Platz wird plötzlich vom gleichauf heranpreschenden Trio Leipzig, Hoffenheim und Freiburg attackiert. Völler beschwört die Qualitäten des unter Druck geratenen Hauses Bayer: "Wir haben einen Top-Trainer, und wir sind zu stark, um uns von Florians Verletzung umwerfen zu lassen."

Ob es für Wirtz nun noch für die WM in Katar reicht?

Wie es mit Wirtz in den nächsten Tagen medizinisch weitergeht, das war am Montag noch nicht geklärt; einen Operationstermin gibt es noch nicht, eine verlässliche Aussage über den Zeitpunkt seiner Rückkehr sowieso nicht. Es könnte sein, dass er pünktlich zur Weltmeisterschaft in Katar wieder zur Stelle ist, aber er müsste dann erst Anschluss an sein Spiel und die Mannschaft finden. Die gewohnte tragende Rolle kann er unter diesen Voraussetzungen wohl kaum wahrnehmen. Der Bundestrainer meldete sich ein paar Stunden nach dem Unfall telefonisch bei Wirtz, dem er im September zum Debüt in der Nationalelf verholfen hatte. "Geschockt" sei er über die Nachricht von der Verletzung gewesen, teilte Hansi Flick mit: "Florian Wirtz ist eines der größten Talente, das der deutsche Fußball in den letzten Jahren hervorgebracht hat. Aber er wird mindestens genauso stark zurückkommen, da bin ich ganz sicher."

Wirtz, sagt Rudi Völler, habe wie Kai Havertz die Gabe, sein Spiel, seine Pässe und Ballannahmen ganz einfach aussehen zu lassen. Aber genau darin liege die große Meisterschaft, die den Ausnahmespieler vom gewöhnlichen Profi unterscheide. Sollte es im November für die WM 2022 und für den gemeinsamen Auftritt mit seinem Leverkusener Vorgänger Havertz nicht reichen, dann freut sich Völler jetzt schon auf die nächste Gelegenheit: "Dann werde ich als Rentner dem Kai und dem Flo dabei zuschauen, wie sie für Deutschland spielen, und werde sagen: Die waren beide mal bei uns."

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