Süddeutsche Zeitung

Fußball-WM:Nass, aber glücklich

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Von Claudio Catuogno, Moskau

Da war der schöne Pokal also wieder, Philipp Lahm trug ihn zur Siegerehrung ins Luschniki-Stadion von Moskau. Und dann galt es Abschied zu nehmen. Nicht nur für ihn selbst. Das WM-Finale von Rio 2014 ist endgültig Geschichte, abgelöst von Moskau 2018, und Lahm ist womöglich für längere Zeit der letzte Deutsche, der den schönen Pokal berühren durfte. Für die nächsten vier Jahre gehört er jetzt erst mal den Franzosen. Um 19:53 Ortszeit war der neue Weltmeister gekürt, 4:2 (2:1) hatte Frankreich dieses Endspiel gegen Kroatien gewonnen.

Pogba, Lloris, Griezmann, Pavard und all die anderen, sie nahmen sich nach dem Schlusspfiff eher gefasst in die Arme, und sicher auch erleichtert. Es war noch mal gut gegangen. Die ausgelassene Freude kam erst später, im sintflutartigen Moskauer Regen, der genau in dem Moment einsetzte, als die Präsidenten Infantino (Fifa), Putin (Russland), Macron (Frankreich) und die kroatische Staatschefin Kolinda Grabar-Kitarović zur Siegerehrung erschienen, und der alle durchnässte, Politiker, Fußballer, Trainer, Betreuer, als wären sie in einen Pool gesprungen - ikonografische Bilder am Schluss. Doch auch die Kroaten hatten rasch realisiert, dass sie dem kleinen Land, das erst ein Mal in einem WM-Halbfinale und noch nie im Finale gestanden hatte, trotz der Niederlage den größten sportlichen Erfolg seiner Geschichte beschert hatten. Und sollten sie sich noch nicht ganz sicher gewesen sein: Spätestens die überschwängliche Freude, mit der Grabar-Kitarović jeden in den Arm nahm, hat es ihnen klargemacht.

4:2, das mag für kommende Generationen wie ein heißer Fußballtanz klingen, wie ein Offensivfeuerwerk. Der Schnelldurchlauf zeigt aber so ziemlich das Gegenteil davon. Ein paar Stichworte aus überwiegend französischer Perspektive: umstrittener Freistoß; Eigentor; umstrittenes Handspiel; Videobeweis; Elfmeter; grotesker Torwartpatzer nach einem Rückpass, Gegentor. Und dann hielten sie den schönen Pokal trotzdem in den Händen, die Franzosen, als erster der Torwart und Kapitän Hugo Lloris. 20 Jahre nach dem ersten Titel der Bleus 1998. Der heutige Nationaltrainer Didier Deschamps, 49, war damals der Kapitän gewesen beim Triumph in Paris, er ist jetzt nach Mario Zagallo und Franz Beckenbauer der Dritte, der als Aktiver und Trainer Weltmeister wurde.

"Es ist zu schön, es ist wunderbar für die Spieler, eine junge Generation. Wir haben viel Qualität an den Tag gelegt, mental und oft genug getroffen. Es war nicht immer einfach, aber weil sie zugehört haben, haben wir schwere Momente hinter uns gelassen", sagte er.

Paul Pogba (59.) und Kylian Mbappé (65.) hatten in der zweiten Halbzeit mit zwei Distanzschüssen von 2:1 auf 4:1 erhöht - das war gewissermaßen eine Art Ehrenrettung für die Franzosen. Immerhin: zwei Tore aus dem Spiel heraus, wenn auch gegen zu diesem Zeitpunkt schon ziemlich desillusionierte Kroaten. Bis dahin hatten die Franzosen allerdings eher den Eindruck erweckt, als wollten sie dem Vorwurf des "Anti-Fußballs", den sie bisher noch mit plausiblen Argumenten zurückgewiesen hatten, nachträglich zu seinem Recht verhelfen. Der belgische Torwart Thibaut Courtois hatte die ultradefensive französische Spielweise nach dem verlorenen Halbfinale so bezeichnet.

Anti-Fußball? Nun, nach den ersten 45 Minuten waren folgende Zahlen in der Statistik vermerkt: Die Kroaten hatten 66 Prozent Ballbesitz gehabt und 60 Prozent ihrer Zweikämpfe gewonnen, sie hatten 197 Pässe zum Mitspieler gebracht, die Franzosen nur 84. Und, geradezu grotesk: Die Franzosen hatten mit einem Torschuss zwei Tore erzielt. Eine spezielle Art der Effektivität.

Aber es ist nun mal so bei einer Fußball-Weltmeisterschaft: An den Pokal dürfen nur Präsidenten und Weltmeister ihre Hand legen, und an den Ball dürfen nur Torhüter ihre Hand legen. Doch als in der 34. Minute Griezmann von der rechten Seite in den kroatischen Strafraum servierte, da hatte Ivan Perisic für einen fast unsichtbaren Augenblick die Hand am Ball. Was dazu führte, dass die Fifa ihre neue WM- Errungenschaft auch im Finale vorführen konnte: den Videobeweis. Nach mehrmaliger Ansicht gab der argentinische Schiedsrichter Néstor Pitana den Elfmeter. Griezmann verwandelte zum 2:1.

Das war der eine Torschuss in der Halbzeit-Bilanz der Franzosen. Und das 1:0? War ein Eigentor des Kroaten Mario Mandzukic, das erste überhaupt in einem WM-Finale. Auch hier stand wieder Antoine Griezmann im Mittelpunkt: Er war allzu leicht dahingesunken im Zweikampf mit Marcelo Brozovic, bekam seinen Freistoß dennoch, schlug den Ball hoch in die Gefahrenzone - und dort hüpfte der Ball dann Mandzukic auf den Scheitel, zum 1:0 für Frankreich.

Ein Rückstand also. Aber war das nicht die bevorzugte Ausgangslage der Kroaten? So hatten sie sich doch bis in dieses Finale vorgearbeitet: auch dank ihrer unverwüstlichen Mentalität, dank der sie Spiele immer wieder drehen konnten. Und tatsächlich: Nach dem unglücklichen Eigentor erzwangen sie zügig das 1:1. Luka Modric flankte, die Franzosen Benjamin Pavard und N'Golo Kanté brachten Ivan Perisic nicht unter Kontrolle - und der platzierte einen heißen Volleyschuss präzise neben den Pfosten (28.).

Der Elfmeter kurz darauf war wohl der entscheidende Nackenschlag zu viel für die Kroaten. Wer weiß: Hätten sie nicht diese unkonzentrierte Phase gehabt Mitte der zweiten Hälfte, hätten sie die Franzosen nicht davonziehen lassen - vielleicht wäre noch etwas möglich gewesen. Denn in der 69. Minute wurde es erneut grotesk: Samuel Umtiti spielte einen Rückpass zu Lloris, der versuchte, Mandzukic auszudribbeln - und von dessen Fuß prallte der Ball ins Tor. 4:2. Anti-Fußball. Kurz durfte Hugo Lloris als Erster den schönen Pokal anfassen.

Und es regnete. Auf Putin, auf Infantino, auf Grabar-Kitarović, auf Deschamps, auf Mbappé, auf Modric, nur nicht auf Philipp Lahm. Der war schon wieder im Trockenen.

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SZ vom 16.07.2018
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