Süddeutsche Zeitung

Verletzter Fan in Aachen:Sturz von der Balustrade

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Nach dem lebensgefährdenden Unfall eines St.-Pauli-Anhängers im Fanblock werden im gerade eröffneten Aachener Stadion die Sicherheitsstandards geprüft.

Ulrich Hartmann

Die Fußballer des FC St. Pauli tanzten am späten Montagabend ausgelassen um die Eckfahne vor dem Zuschauerblock N1. Sie klatschten und hüpften, genauso wie ihre Fans droben auf der Ecktribüne des neuen Aachener Stadions. Sie feierten den 5:0-Sieg des Hamburger Zweitligisten beim TSV Alemannia Aachen, als zehn Minuten nach dem Schlusspfiff das Hüpfen und Klatschen und Singen plötzlich abebbte und vor dem Block Ordner aufgeregt hin und her liefen. Entsetzen sprach aus ihren Blicken. Etwa sechs Meter unterhalb des Gästeblocks N1 lag ein 39-jähriger St.-Pauli-Fan mit dem Gesicht nach unten auf dem Betonpflaster.

Er war soeben von der Brüstung des Fanblocks kopfüber hinuntergefallen. Sein Oberkörper war nackt, seinen Rücken zierte ein gewaltiges Totenkopf-Tattoo, es ist das Symbol des Rebellenklubs FC St. Pauli. Die Fans droben, die seinen Sturz kopfüber auf den Steinboden mitangesehen hatten, erlitten einen Schock, einige Fußballer vom FC St. Pauli auch. Deniz Naki und Davidson Drobo-Ampem, zwei Spieler vom neuen Zweitliga-Tabellenführer, gingen weinend vom Feld.

Die Euphorie eines besonderen Fußballspiels war im Schock erfroren. "Jetzt haben wir eine schreckliche Sechs-Stunden-Busfahrt vor uns", sagte Mittelfeldspieler Florian Bruns kurz vor Mitternacht. Der Trainer Holger Stanislawski machte sich Sorgen um einige seiner Spieler. "Die haben direkt aus der Nähe gesehen, wie der Mann auf dem Boden aufschlug", sagte er, "ich hoffe, sie überstehen die Fahrt einigermaßen."

Eröffnung des neuen Tivoli

Der Sieg war einerlei, die Tabellenführung nebensächlich, der Fußball unwichtig. Niemand freute sich mehr über das 5:0, niemand schwärmte von jenen 15 Minuten in der ersten Halbzeit, in denen die Hamburger alle Tore zur 4:0-Pausenführung erzielten. "Mir ist richtig schlecht", sagte Aachens Trainer Jürgen Seeberger, und das hatte kaum noch etwas mit der höchsten Heimniederlage in der Historie der Alemannia zu tun. Der 39-jährige Fan erlitt beim Aufprall schwerste Verletzungen am Kopf und brach sich beide Arme. Er wurde vor Ort wiederbelebt und sofort in die Aachener Uniklinik gefahren. Am Dienstag lag er im künstlichen Koma. Es bestehe weiterhin Lebensgefahr, teilte die Polizei am Mittag mit.

32960 Menschen im ausverkauften Stadion wurden Zeuge eines erst schönen, dann schrecklichen Abends. Es war das allererste Spiel am neuen Tivoli. 400Meter neben dem alten Aachener Stadion war in den vergangenen zwölf Monaten für 50 Millionen Euro eine moderne gelbe Arena entstanden. Mit ein bisschen Wehmut und viel Stolz machte der Verein am Montag einen großen Schritt aus der Vergangenheit in die Zukunft, doch einer der vermeintlich schönsten Abende der Klubhistorie wandelte sich in einen der schwärzesten.

Vor dem Spiel sang das ganze Stadion "You'll never walk alone", zur Pause und zum Spielschluss gab es für eine enttäuschende Leistung der Aachener Fußballer gellende Pfiffe und zehn Minuten nach dem Spiel legte sich plötzlich eine lähmende Stille über das Stadion, die kurz nach dem Unglück von jenem bunten, knallenden Feuerwerk aufgeschreckt wurde, das 500 Meter weiter die Schausteller zum Ende des jährlichen Volksfests abbrannten.

St.-Pauli-Fans unter Schock

Nach den Erkenntnissen der Polizei handelte es sich bei dem Sturz um ein Unglück. Es gebe keine Anzeichen für ein Fremdverschulden. Fotos zeigen, wie der Fan unmittelbar nach dem Spiel auf der nur etwa bauchhohen Brüstung vorne am Fanblock sitzt, um den vor der Tribüne tanzenden Fußballern zuzujubeln. Sekunden später muss er hinuntergestürzt sein. Warum, ist bislang unbekannt. "Das Stadion ist absolut konform mit den geltenden Sicherheitsstandards", sagt Alemannia-Sprecher Thorsten Pracht. Erst am Montagmittag war die Abnahme durch Feuerwehr und Polizei erfolgt.

Trotzdem wird im Verein nun diskutiert, ob im Gästeblock das Geländer an der vorderen Brüstung, an der alle Fans dieses abgetrennten Tribünenteils auf dem Weg zur Treppe vorbei müssen, erhöht wird oder ob gar, wie an den Seiten als Abgrenzung zu den Nachbarblocks, eine Plexiglasscheibe installiert wird. Gleich vier Fans des FC St. Pauli waren nach dem Schlusspfiff auf die Balustrade geklettert.

Der exakte Hergang des Unfalls muss von der Polizei noch weitergehend rekonstruiert werden. Etwa 25 Augenzeugen, deren Personalien aufgenommen wurden, standen am Montagabend unter Schock sowie teils unter Alkoholeinwirkung und mussten vor Ort seelsorgerisch betreut werden. Sie müssen noch einmal aussagen. Um die betroffenen Fußballprofis des FC St. Pauli kümmerte sich während der Heimfahrt der Trainer Stanislawski. "Wenn so etwas passiert", sagte er leise, "wird der Fußball absolut nebensächlich." Selten einmal waren Tabellenführer so traurig.

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SZ vom 19.08.2009/jbe
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