Süddeutsche Zeitung

Ukraine bejubelt 2:1 gegen Schweden:Schewa küsst ein ganzes Land wach

Lesezeit: 3 min

Einen solch guten Stürmer gab es in ganz Osteuropa noch nie: Der ukrainische Nationalheld Andrej Schewtschenko führt den Gastgeber mit zwei Toren gegen Schweden zum Sieg. Dabei schien der mittlerweile 35-Jährige eigentlich schon zu alt für die EM. Nach dem überraschenden Erfolg glaubt plötzlich eine ganze Nation an größere Fußballtaten.

von Thomas Hummel

Oleg Blochin setzte sich auf das Podium, wo der Trainer auf Geheiß der Europäischen Fußball-Union Uefa das Spiel mit ein paar Worten kommentieren sollte. Dann verzog er das Gesicht und griff sich an den Rücken, er verzerrte seine Mimik derart theatralisch, dass man befürchten musste, er werde gleich auf der Trage wieder hinausbefördert. Hatte der 59-jährige Trainer etwa zu heftig gejubelt?

Als die 94 Minuten zu Ende gespielt waren im Kiewer Stadion "Olimpijskyj", hatte sich am Seitenrand ein hüpfendes Knäuel gebildet, aus dem Blochins Gesicht mit aufgerissenem Mund herauslugte. Das Knäuel wollte gar nicht mehr aufhören zu hüpfen. Mitten darin hüpfte auch Andrej Schewtschenko mit, der Held dieser Kiewer Nacht. Andrej Schewtschenko hatte zwei Tore geköpft für sein Land gegen die Schweden, er hatte das Ergebnis nach einem 0:1-Rückstand gedreht.

Der Gastgeber gewann sein erstes Spiel bei dieser Europameisterschaft, die Menschen jubelten, als hätte es in der Geschichte der Ukraine niemals ein wichtigeres Ereignis gegeben. Es war auf jeden Fall das lauteste. Draußen in der Stadt hupten, trompeteten und brüllten die Leute noch bis weit, weit nach Mitternacht. "Selbst in den kühnsten Träumen konnte ich mir diese Nacht so nicht ausmalen. Ich bin so glücklich", erklärte Schewtschenko mit einigem Pathos neben Blochin auf dem Podium.

Der strenge Trainer wies ihn sogleich zurecht und stöhnte laut auf: "Andrej konnte sich das nicht vorstellen, aber ich habe schon von zwei Toren geträumt." Dabei hatte schon niemand mehr damit gerechnet, dass der größte Fußballer des Landes - seit den guten Tagen des Trainers - überhaupt würde auflaufen können an diesem Abend. Auch Schewtschenko selbst nicht. "Danke an alle, die mit mir gearbeitet haben das letzte halbe Jahr. Ich hatte Knie- und Rückenprobleme. Ich dachte nicht, dass ich bei diesem ersten EM-Spiel dabei sein kann."

Heute fühle er sich zehn Jahre jünger. Seit mitte der neunziger Jahre verehren die Ukrainer Andrej Schewtschenko als besten Fußballer der Ukraine. Bei seinen Wechsel aus Kiew zum AC Mailand und dann vor allem zum FC Chelsea floss so viel Geld wie für keinen anderen Fußballer aus dem Osten Europas. "Schewa" gehörte viele Jahre zu den besten Stürmern Europas - doch die EM im eigenen Land schien zu spät zu kommen für ihn.

Nach seiner Rückkehr nach Kiew plagten ihn Verletzungen und der Fußball schien für den 35-Jährigen nicht mehr das Wichtigste zu sein in seinem Leben. Er ging seiner neuen Leidenschaft, dem Golf, nach und bisweilen war er nur noch wenig an seiner eigenen Fitness interessiert. Schon seine Nominierung für den Kader war nicht unumstritten, dann soll er sich mit Trainer Blochin auf eine Rolle als Ersatzspieler geeinigt haben, auf eine Art Maskottchen-Rolle. Doch schließlich stand er gegen die Schweden in der Anfangself, führte die Mannschaft gar als Kapitän auf das Feld.

Und die Zuschauer in Kiew riefen: "Schewa, Schewa!" Selbst als er die ersten beiden Chancen für die überlegenen Ukrainer in der ersten Halbzeit vergab, riefen sie seinen Namen. Schewa ist in Kiew bei den Fans immer noch unantastbar. Mit der schwedischen Führung nach der Pause durch Zlatan Ibrahimovic (52. Minute) begann ein fast übertrieben kitschiges Drehbuch.

Schewtschenko erklärte es so: "Ich bin ein Stürmer und suche den Raum. Beim ersten Tor kam eine großartige Flanke von Jarmolenko und ich war schneller als der Gegenspieler. Das zweite Tor, der Eckball auf den kurzen Pfosten, hatten wir trainiert. Der Ball ging durch ein kleines Loch."

Plötzlich führten die Ukrainer in diesem nervösen, konfusen Spiel 2:1. Das "Wie" war an diesem Abend aber nicht wichtig. Es zählte nur das Ergebnis. Und das stimmte nun. Nur für Schweden natürlich nicht. Die kamen zwar in den letzten zehn Minuten noch zu Chancen, doch in den 80 Minuten davor hatten sie eine sehr betrübliche Leistung geboten. Ihr Trainer Erik Hamrén beklagte, dass viele Spieler nicht auf der Höhe gewesen seien. Vor den weiteren Partien in der Gruppe D gegen Frankreich und England ist ihr Vorrundenaus bereits absehbar.

Hamrén überreichte Glückwünsche an seinen Besieger: "Wir waren vorbereitet auf Schewtschenko, aber er war wirklich sehr gut im Strafraum. Gut für ihn, schlecht für uns." Oleg Blochin, der griesgrämige Trainer mit dem Apparatschik-Duktus nutzte den Moment, um sich bei der ihm sehr ungeliebten Presse zu revanchieren. Nach schwachen Leistungen in den vergangenen Monaten hatten sich einige erlaubt, Kritik zu üben. Und so beantwortete er zwei Fragen zum weiteren Turnierverlauf mit der Einlassung, nun müde zu sein und nach Hause zu wollen.

Zum heiklen Thema, ob das Team nun nach Donezk übersiedle in das Reich eines Oligarchen, sagte er gar nichts, sondern schüttelte nur leicht den Kopf. Dabei blickte Blochin den Fragesteller an, als würde nun der Gulag auf ihn warten. "Jeder hat uns kritisiert", sagte er dann, "wir wären nicht vorbereitet und hätten keine Luft für 90 Minuten. Doch ich unterstreiche, dass wir schnell gespielt haben und vorbereitet sind." Der international erfahrene Andrej Schewtschenko aber versuchte, aus dem Abend nicht bereits den EM-Titel abzuleiten.

"Wir wollen die Gruppe schaffen, aber wir haben noch zwei harte Spiele." Franzosen und Engländer könnten der Party noch ein herbes Ende bereiten. Doch diese eine Nacht kann dem Land niemand mehr nehmen. Schewtschenko schloss mit dem Satz: "Es ist ein großer Tag für die Ukraine."

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