Süddeutsche Zeitung

Missbrauch im Turnen:Im Stich gelassen vom FBI

Lesezeit: 3 min

Turnerin Simone Biles und drei ehemalige Kolleginnen fühlen sich vom FBI verraten, weil leitende Mitarbeiter Vorwürfe im Missbrauchsskandal um Larry Nassar nicht ernst genommen haben. Die Versäumnisse quälen sie bis heute.

Von Saskia Aleythe, München

Auch jetzt saß sie wieder bei den anderen im Gericht. Vor sieben Wochen noch turnte Simon Biles bei den Olympischen Spielen in Tokio, gewann Bronze am Schwebebalken und Silber mit dem Team, es war ein hartes Comeback. Die 24-Jährige war psychisch stark belastet, doch Biles wollte wieder turnen, sie fürchtete, sonst ihre Stimme zu verlieren in dem Prozess, der sie schon Jahre begleitet. "Survivor" nennen sie sich, die von Larry Nassar, dem früheren Arzt des US-Verbandes, systematisch missbraucht wurden. "Ich dachte, wenn keine der Überlebenden noch weiter im Sport dabei ist, werden sie es einfach beiseiteschieben", sagte Biles einmal dem Sender NBC zu ihrem Entschluss, noch einmal bei Olympia anzutreten. Das Beiseiteschieben hatte schließlich System, beim Turnverband (USAG), beim Olympischen und Paralympischen Verband (USOPC) - und sogar beim FBI.

Am Mittwoch bei einer Anhörung in Washington stützten sie sich gegenseitig, drückten sich noch einmal die Hand, bevor sie aussagten vor dem Senat: Biles, die vierfache Olympiasiegerin, und McKayla Maroney, Aly Raisman und Maggie Nichols, sie alle haben für das US-Team geturnt und unter Nassar Wunden davongetragen. Der mittlerweile 58-Jährige wurde im Juli 2017 zunächst wegen des Besitzes von Kinderpornografie zu 60 Jahren Haft verurteilt, im Januar 2018 dann zu weiteren 40 bis 175 Jahren im Missbrauchsprozess. Noch immer läuft die Aufarbeitung um eine Kultur des Beiseiteschiebens, die sich nicht plötzlich verändert, nur weil ein Täter im Gefängnis sitzt.

Wenn nicht mal das FBI hilft - an wen soll man sich dann noch wenden?

"Man hat uns im Stich gelassen, und wir verdienen Antworten", sagte Biles am Mittwoch: "Wir haben gelitten und leiden immer noch, weil niemand beim FBI, der USAG oder dem USOPC das getan hat, was nötig war, um uns zu schützen." Und über allem stand dann die Frage: An wen kann man sich noch wenden, wenn nicht mal das FBI hilft?

Auf 109 Seiten hatte Michael Horowitz, Generalinspekteur des US-Justizministeriums, in einem Bericht im Juli geschildert, welche Versäumnisse sich beim FBI bei der Untersuchung der Vorwürfe gegen Nassar aufgetürmt hatten und wie die Verzögerung eine Vielzahl weiterer Missbräuche ermöglichte. 17 Monate vergingen zwischen Juli 2015, als die ersten Vorfälle beim FBI gemeldet wurden, und Dezember 2016, als Nassar verhaftet wurde. 17 Monate, in denen mindestens 70 Athletinnen erneut oder erstmals von ihm missbraucht wurden, wie Dokumente eines Zivilgerichts belegen. Ein schockierender Umstand, der auch die Sportlerinnen selbst bis heute belastet. "Ich werde von der Tatsache verfolgt, dass selbst, nachdem ich meinen Missbrauch gemeldet hatte, so viele Frauen und Mädchen unter den Händen von Larry Nassar leiden mussten", sagte Maggie Nichols am Mittwoch, "USA Gymnastics und USOPC haben mich und alle, die von Larry Nassar missbraucht wurden, verraten."

Die Turnerin schilderte konkreten Missbrauch - der Mitarbeiter fragte: "Ist das alles?"

Ihre frühere Teamkollegin Maroney schilderte besonders eindrücklich, wie mit ihren Aussagen umgegangen wurde. Im Telefonat mit einem FBI-Mitarbeiter habe sie berichtet, wie Larry Nassar ihr gesagt habe, sie solle Shorts ohne Unterwäsche anziehen, "denn das würde es ihm erleichtern, mich zu behandeln, und innerhalb von Minuten hatte er seine Finger in meiner Vagina". Außerdem habe er ihr eine Schlaftablette gegeben und als sie später aufwachte, lag er auf ihr und habe sie stundenlang missbraucht. Die einzige Reaktion am anderen Ende der Leitung: "Ist das alles?". Worte, die laut Maroney einer der schlimmsten Momente dieses gesamten Prozesses waren, "dass mein Missbrauch von den Leuten, die mich beschützen sollten, minimiert und ignoriert wurde".

Auch FBI-Direktor Christopher Wray war in der Anhörung dabei und entschuldigte sich bei Maroney und den anderen Athletinnen. "Es tut mir leid, was Sie und Ihre Familien durchgemacht haben. Es tut mir leid, dass Sie so viele verschiedene Leute immer wieder im Stich gelassen haben", so Wray. Insbesondere bedauerte er, dass es Leute beim FBI gab, "die 2015 die Chance hatten, dieses Monster zu stoppen und versagt haben".

Wobei Versagen auch eine gewisse Aktivität voraussetzt und die war nur spärlich gegeben. Die notwendige "Ernsthaftigkeit und Dringlichkeit" habe selbst leitenden Mitarbeitern gefehlt, wurde im Bericht im Juli notiert, Informationen seien nicht wie vorgeschrieben weitergeleitet worden, auch von Lügen der Angestellten bei der Weitergabe ist die Rede. Ein FBI-Agent, der laut Bericht des Generalinspekteurs Horowitz Aussagen nicht ausreichend dokumentiert hatte, wurde mittlerweile entlassen. Ein weiterer, der im Bericht belastet wurde, schied bereits 2018 aus. Doch auch hier ist die Aufarbeitung längst nicht abgeschlossen, es wird vor dem Senat noch eine gesonderte Anhörung mit FBI-Boss Wray und Horowitz geben.

"Ich bin ein starker Mensch und werde durchhalten, aber ich hätte nie alleingelassen werden dürfen, um Larry Nassars Missbrauch zu erleiden", sagte Simone Biles noch. Sie will weiterkämpfen, trotz aller Wunden und Tränen, die ihr auch jetzt noch kommen, wenn sie von den schlimmsten Stunden in ihrem Sport erzählt.

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