Süddeutsche Zeitung

Tour de France 2009:Die Nuss genießt

Lesezeit: 3 min

Der Italiener Rinaldo Nocentini fährt bei der Tour seit Tagen in Gelb - öffentliches Interesse weckt in Frankreich aber allenfalls seine Ehefrau Manola.

Andreas Burkert

Guten Tag, und wer fährt eigentlich in Gelb? Bob Stapleton schaut an seinem Gegenüber vorbei, als stünde die Lösung irgendwo drüben an einer Häuserwand angeschrieben. Er überlegt. Vier, fünf, sechs Sekunden vergehen, dann sieht der Kalifornier einen wieder an, "well, uuh, aah...", bringt er zunächst heraus, und dann, mit großer Erleichterung: "Yes - this Nocentini!"

Es geht in diesen Tagen vielen so wie Stapleton, dem Teamchef von Columbia. Alles redet ja hier bei der Tour de France nur von Lance Armstrong und Alberto Contador, den Teamrivalen der Astana-Flotte. Und Stapletons Ausnahmesprinter Mark Cavendish ist natürlich auch schon mal ein Thema, nach drei Etappensiegen war auch am Ende des elften Abschnitts kein Vorbeikommen am unwiderstehlich explosiven Briten, den Stapleton neuerdings seinen "Goldhammer" nennt.

Rinaldo Nocentini? Nie gehört.

Gelb ist gewöhnlich die Farbe der Tour, aber zurzeit ist das irgendwie anders - seitdem der italienische Profi Rinaldo Nocentini im Maillot Jaune durch Frankreich rollt. Selten in der Geschichte der Rundfahrt ist der Klassementbeste hier derart ignoriert worden wie der 31-Jährige aus der Toskana. Hat es überhaupt jemals einen weniger beachteten Mann im berühmtesten Hemd des Sports gegeben? Immer wieder gab es namenlose Helden, wie François Simon, der 2002 im Regen unverhofft eine halbe Stunde gewann, so dass Armstrong etwas länger warten musste auf Gelb. Aber Simon ist Franzose, wie auch Thomas Voeckler, von dem man zwar 2004 ebenfalls wusste, dass er nie und nimmer die Tour gewinnt. Doch die Nation feierte.

Auch Nocentinis Geschichte gleicht einer Laune des Schicksals, er habe "eben die Chance meines Lebens ergriffen", sagt er selbst. Vorigen Freitag in Arcalis ist er lachender Dritter gewesen, als Contador dem eigenen Kollegen davonfuhr - Armstrong wäre wohl bei zügiger Teamarbeit in Gelb gewesen, jetzt liegt er seit Tagen acht Sekunden zurück. Und da der Spanier Contador allein gegen den heftigen Gegenwind ankämpfte, fehlen ihm bis heute für die Führung sechs lächerliche Sekunden auf Nocentini, den zähen Passagier einer Ausreißergruppe. "Die Minuten nach der Ankunft von Contador waren schrecklich", erinnert sich Julien Jurdie, Sportchef bei Nocentinis französischer Mannschaft Ag2r. "Aber als sie uns dann sagten, dass er das Gelbe hat, war das einfach nur phantastisch."

Zwei Gesichter

Doch seitdem sieht man Nocentini eher schüchtern auf dem Podium, wie er dort die Damen küsst und jenes gelbe Trikot anzieht, das schon bald einem anderen gehört. Am Ruhetag fuhr er trotzdem stolz in komplett gelber Montur aus, und auch im Kreis seiner Mannschaft gibt er sich ganz anders. "Er ist ein Freund", sagt der irische Ag2r-Profi Nicolas Roche. "Er lacht den ganzen Tag und singt im Bus immer italienische Lieder."

Zehn Jahre hat Nocentini auf solche Glücksgefühle warten müssen. Dabei schien er vor einer großen Karriere zu stehen, 1998 gewann er bei der U23-WM Silber hinter Ivan Basso und vor Danilo DiLuca, den später in diverse Dopingskandale verstrickten Landsleuten. Auch von Nocentinis erstem Arbeitgeber Mapei (1999 bis 2001) ist heute wenig Gutes bekannt, ebenso von Fassa Bortolo (2002). Nocentini hat die sehr italienische Art des Radsports aus nächster Nähe mitbekommen, eine Art, die heute dafür verantwortlich ist, dass die erste Garde wie Basso, DiLuca oder Garzelli für die Tour nicht infrage kommt. Letzter Italiener in Gelb ist vor neun Jahren Alberto Elli gewesen, damals Telekom. Seine Karriere endete unehrenhaft per Dopingsperre.

Traum vom Etappensieg

Nocentini indes wollte unbedingt zur Tour; bei Ag2r, wo er nach kleinen Engagements in Italien seit 2007 fährt, hat er die Chefs angefleht, ihm das Debüt dort zu ermöglichen. Es ist ja nicht so, dass er nicht radeln könnte, auch wenn ihn die Gazzetta dello Sport dieser Tage als "Domestik der Domestiken" bezeichnete. Die Berge kommt der Wasserträger ordentlich hinauf, 2008 gewann er den schweren Grand Prix Lugano und belegte bei Paris - Nizza Platz zwei, sein wertvollstes Resultat. "Ich weiß, dass ich nicht hier bin, um die Tour zu gewinnen, ich habe vom Etappensieg geträumt", sagt Nocentini. "Aber ich werde so lange auf das Gelbe Trikot aufpassen, wie es geht." Bis Freitag könnte, auch dank des entschärften Streckenverlaufs in den Pyrenäen, der reale Traum anhalten. Dann folgt ein harter Tag in den Vogesen.

Das wäre eine Woche in Gelb gewesen, "unfassbar", schwelgt Nocentini, eines von neun Kindern eines Bauern aus Montevarchi. Nun rufen sie ihn bei Ag2r seit Arcalis "Ronaldinho", er sich selbst "il Noce", die Nuss. Und Italien, wo sie immer noch glauben, ihr Giro sei so groß wie die Tour, lernt ihn allmählich kennen. Dienstag druckte die Gazzetta die "Nocentini Story", die Leserschaft weiß jetzt, dass er ein riesiges Tattoo am Oberkörper besitzt, dass er einen Jeep hat und zu Hause kocht. Auch das französische Fernsehen hat sich jetzt doch mal länger mit ihm befasst, vermutlich lag das aber an Manola, seiner feurigen Gattin, die seit Limoges an seiner Seite stöckelt.

Manola trägt ein gelbes Collier und ein sehr, sehr enges gelbes Shirt, bedruckt mit "how do you feel today?", wie fühlst du dich heute? Was für eine Frage, denkt sich wohl ihr Gatte, er saß im Studio mit rotem Kopf. Reden ist nicht sein Ding. Die Nuss genießt.

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Quelle:
SZ vom 16.07.2009/jbe
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