Süddeutsche Zeitung

Tennis:Corona? Doch nicht in Wimbledon!

Lesezeit: 3 min

Beim berühmten Rasenturnier tun alle so, als gebe es die Pandemie nicht. Doch das Virus ist längst im All England Club aufgetaucht. Während die Massen dichtgedrängt auf die Anlage strömen, werden die Warnungen prominenter Tennisspieler ignoriert.

Kommentar von Gerald Kleffmann, Wimbledon

Wenn Profis, Arbeitskräfte, Zuschauer den All England Club betreten, ist das Prozedere das gleiche: Erst mal steht man an. In England ist Anstehen sicher irgendwo per Gesetz verankert; dann werden Rucksack oder Tasche wie am Flughafen gescannt. Das war's. Niemand muss seinen Impfstatus mehr vorzeigen. Oder einen Negativtest. Es misst keiner die Temperatur, wie das noch bei Grand-Slam-Turnieren der vergangenen zwei Jahre der Fall war. Masken trägt niemand.

Im All England Club selbst gibt es keine Anlaufstelle für jene, die sich unwohl fühlen und überprüfen wollen, ob sie sich das Coronavirus eingefangen haben. In der Apotheke unter Court No. 1 waren nicht mal Schnelltests vorhanden. Wo man welche findet? Schulterzucken. Man könne welche bestellen. Auf der Homepage des Turniers sind Informationen dazu nur versteckt zu finden. Sie stehen unter der Kategorie "Staying Safe". Es gelten, heißt es, die Regeln der britischen Regierung, die besagen, dass es keine Regeln mehr gebe. Außer: Wer sich unwohl fühlt, möge zu Hause bleiben.

That's it. Corona ist quasi nicht existent.

Aber es ist existent. Es ist längst da im All England Club. Prominente Tennisprofis haben es sich eingefangen. Journalisten. Ob und wie viele insgesamt bislang, ist unklar, denn Wimbledon informiert nicht über Positivfälle. Es waren die Topspieler Matteo Berrettini, Marin Cilic und Roberto Bautista Agut selbst, die die Öffentlichkeit über ihren Befund und den Rückzug vom berühmten Rasenklassiker verkündeten. Der Italiener ist immerhin der Vorjahresfinalist. Der Kroate stand 2017 im Endspiel. Der Spanier 2019 im Halbfinale. Reporter, die Schulter an Schulter und Nase an Nase zwischen Positivfällen saßen, über Tage, werden über das mögliche Gesundheitsrisiko im Unklaren gelassen.

Andrea Petkovic sagt: "Wenn ich etwas zu sagen hätte, würde ich die Maske in geschlossenen Räumen wieder einführen."

Auf Nachfrage, wie das Sicherheitsprotokoll, um das 2020 und 2021 an vielen Tennisstandorten der Welt noch ein immenser Aufwand betrieben wurde, aussehe - keine Antwort. Auch in den britischen Medien ist das Thema wie ausgeblendet. Am Freitag 700 Seiten über die Engländerin Katie Boulter, die die Vorjahresfinalistin Karolina Pliskova besiegt und danach auf dem Center Court Tränen vergossen hatte. Ihre Großmutter war vor zwei Tagen verstorben. Eine berührende Geschichte, ja. Aber auch ein Beleg, dass sich im Frühsommer 2022 die Relationen verschoben haben.

"Es ist wie normal eigentlich", sagte Andrea Petkovic, die 34-Jährige war im Einzel ausgeschieden, im Doppel hat sie die zweite Runde erreicht. Sie verriet, dass sie kürzlich Covid hatte: "Ich hatte es mir in Paris eingefangen. Paris war das erste Turnier ohne Maskenpflicht. Ich habe die ersten Tage noch eine Maske getragen, das hat aber keiner gemacht, und dann habe ich es auch nicht mehr gemacht." Sie sieht sich nicht als Einzelfall: "Jetzt habe ich von Tausend gehört, dass sie es wieder direkt bekommen haben." Sie fühle sich zwar nun "immun", doch sie befand auch: "Wenn ich etwas zu sagen hätte, würde ich die Maske in geschlossenen Räumen wieder einführen." Die schlechte Nachricht für Petkovic: Sie hat nichts zu sagen. Und 20-malige Grand-Slam-Sieger offenbar auch nicht.

"Vor einigen Monaten noch hatten wir so strenge Regeln. Und jetzt kann ein Spieler, wenn er einen positiven Corona-Test hat, theoretisch selbst entscheiden, ob er spielt oder nicht", wunderte sich zu Recht Wimbledon-Titelverteidiger Novak Djokovic, der ob der völlig aufgehobenen Sicherheitsmaßnahmen schlussfolgerte: "Das ergibt für mich keinen Sinn so kurz nach alledem, was wir durchgemacht haben." Diese Sicht war umso bemerkenswerter, da Djokovic ja selbst ungeimpft ist und bei aller Sorge, die er bei dem Thema schon äußerte, nicht damit auffiel, zu Alarmismus zu neigen. Seine Sätze lösten keinerlei Reaktion seitens Wimbledon aus, das jeden Tag von Menschenmassen geflutet wird, und auch eine andere besorgniserregende Darstellung verhallte schnell.

Die französische Spielerin Alizé Cornet hatte in der Sportzeitung L'Équipe kürzlich von einer "Corona-Epidemie" bei den French Open und einem "Stillschweigeabkommen" gesprochen: "In der Kabine hatten es alle, und wir haben nichts gesagt. Wenn es in der Presse rauskommt, bei großen Spielern, brennt die Luft, und das sorgt mich ein wenig." Es ist ja angenehm, dass die Welt lernt, entspannter mit dem Virus zu leben. Es aber völlig zu ignorieren wie das Wimbledon-Turnier, das als Vorbild in der Branche gilt? Dieser Weg könnte sich als riskant erweisen. Längst steigt die Anzahl positiver Fälle wieder, weltweit.

Rafael Nadal wurde in Wimbledon gar gefragt - nur weil einige seiner Teammitglieder Maske tragen -, ob Paranoia herrsche. Ruhig antwortete der 22-malige Grand-Slam-Sieger: Natürlich solle und müsse das normale Leben zurückkehren. Covid würde inzwischen nicht mehr ganz so gefährliche Folgen haben in Bezug auf schwere gesundheitliche Probleme. Er aber vermeide es, viel unterwegs zu sein. Paranoia? "No, no, no", sagte da Nadal entschieden. "Realität." Wie wenig viele, auch hier in Wimbledon, aus den vergangenen zwei Jahren gelernt haben, ist immer wieder erstaunlich.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5613293
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.