Süddeutsche Zeitung

Tabellenführer FC Bayern:Zuschlagen, wenn der Gegner müde wird

Lesezeit: 3 min

Von Johannes Aumüller, Mainz

Irgendwann drängte sich der Verdacht auf, dass die Münchner in der Kabine noch eine kleine Abmachung getroffen hatten: Wer es nicht schafft, in seiner Stellungnahme zum Spiel das Wort "müde" unterzubringen, muss beim nächsten Training das Ballnetz tragen oder beim gemeinsamen Wiesn-Besuch statt in Lederhosen im Dress von Borussia Dortmund aufkreuzen. Der Abwehrchef Jérôme Boateng kam und sprach von "müde spielen"; der Sportvorstand Matthias Sammer kam und sprach von "müde spielen"; der Kapitän Philipp Lahm kam und variierte die Formulierung etwas, er sprach von "müde werden", aber er meinte damit natürlich dasselbe wie die anderen Redner.

Der Trainer Pep Guardiola wiederum benutzte das Wort "müde" nicht explizit, aber es ist sicherlich nicht ganz falsch, seine Ausführungen mit diesem Gedanken zusammenzufassen: Wir haben gegen die Mainzer mit 3:0 gewonnen, weil diese irgendwann müde gespielt waren.

Torlos bis Minute 45, danach drei Treffer

Andererseits hätte es großartiger Absprachen gar nicht bedurft. Mit dem Verweis auf die Müdigkeit des Gegners verband sich ja durchaus die zentrale Erklärung, warum dieser Nachmittag genau so und nicht anders verlaufen war. Und dieser Nachmittag wiederum erwies sich als stellvertretend für ein interessantes Phänomen, das den FC Bayern in der Saison 2015/16 begleitet: das Phänomen der zwei unterschiedlichen Halbzeiten.

Wenn die Erfinder des Fußballs anno dazumal beschlossen hätten, dass es nicht zweier Abschnitte bedarf, um einen Sieger zu ermitteln, sondern 45 Minuten reichen, sähe die Zwischenbilanz der Münchner in der Bundesliga nicht sonderlich beeindruckend aus: Nur elf von 21 möglichen Punkten gäbe es für die ersten Halbzeiten, dazu ein überschaubares Torverhältnis von 4:3.

Weil die Spielzeit in offiziellen Fußballmatches seit dem Ende des 19. Jahrhunderts aber 90 Minuten beträgt, sind die Zahlen famos: 21 Punkte, dazu ein Torverhältnis von 23:3. Schon gegen Hoffenheim (2:1), Augsburg (2:1) und Wolfsburg (5:1) wandelten die Münchner ihre frühen Rückstände erst nach der Pause in Siege um. In der Champions League beim griechischen Vertreter Olympiakos Piräus stand es nach der ersten Hälfte noch 0:0 und erst am Ende 3:0. Und nun gegen Mainz also: torlos bis Minute 45, danach drei Treffer.

Eine ganze Weile haben sich die Münchner schwer getan mit der intensiven Defensivarbeit des Gegners. Er habe noch selten "eine so gut verschiebende Mannschaft" gesehen wie die Mainzer, lobte Sportvorstand Sammer. Thomas Müller verschoss erstmals seit anderthalb Jahren einen Elfmeter (20.), die erste richtige Chance aus dem Spiel heraus ergab sich für die Münchner erst nach 35 Minuten, und etwas Glück hatten sie zwischendurch auch noch, als Yoshinori Muto eine Gelegenheit für Mainz vergab. Aber dann nach dem Seitenwechsel: Flanke Coman, Kopfball Lewandowski, 1:0 (51.). Vorlage Vidal, Abschluss Lewandowski, 2:0 (58.). Hereingabe Costa, Treffer Coman, 3:0 (63.).

Münchens Trainer Pep Guardiola ist in der privilegierten Situation, dass er über ein paar ausgezeichnete Argumente verfügt, wegen derer ihn eine schwächere erste Hälfte nicht großartig erschrecken muss. Mal wechselt er einfach einen Spieler vom Kaliber eines Robert Lewandowski ein (wie gegen Wolfsburg). Ein anderes Mal kann er sich auf sein taktisches Gespür verlassen und mit ein paar Umstellungen die grundsätzliche Anlage des Spiels verändern (ebenfalls wie gegen Wolfsburg). Dass seine Mannschaft nicht nur spielerisch, sondern auch körperlich zu den stärksten der Liga gehört, weiß er auch. Und dazu ist ihm eben bewusst, dass ein Gegner zwar 45 Minuten, aber keineswegs 90 Minuten lang einen solchen läuferischen Aufwand betreiben kann, wie es eigentlich notwendig wäre.

Es wartet eine englische Woche

Fünf, sechs Kilometer sei seine Mannschaft mehr gelaufen, sagte Mainz' Trainer Martin Schmidt, aber irgendwann sind fünf, sechs Kilometer mehr eben auch zu spüren. Eine solche erste Hälfte wie am Samstag mit viel Ballbesitz, aber wenigen Ereignissen kalkuliert Guardiola für seinen Spielplan schon mal mit ein. Die erste Hälfte hilft mit, um den Grundstein zu legen für das, was später kommt. Wenn der Gegner erst einmal etwas müder ist.

Nun steht dem FC Bayern mal wieder eine englische Woche bevor: Am Dienstag empfängt er in der Champions League den kroatischen Meister Dinamo Zagreb, am Sonntag (17.30 Uhr) kann er mit seinem achten Sieg nacheinander im Spitzenspiel gegen Borussia Dortmund den eigenen Startrekord aus der Saison 2012/13 einstellen. Und neben dem Wissen um die Stärke in der zweiten Hälfte erfreut sich der FC Bayern vor diesem Doppelpack besonders an zwei Personalien: zum einen an Javier Martinez, der nach seiner Knieverletzung nun wieder so fit ist, dass er gegen Mainz von Beginn an Innenverteidigung spielen konnte, wo auch künftig seine primäre Position liegen dürfte.

Und zum anderen natürlich an Robert Lewandowski: Erst schoss der Pole fünf Tore gegen Wolfsburg, dann seine Bundesliga-Treffer 100 und 101 gegen Mainz und dann - als womöglich größte Leistung - animierte er zwei oft ernst dreinblickende Menschen zu kleineren Witzchen. "Lewy steckt in einer Krise", scherzte Vorstand Matthias Sammer ob dessen Rückfall von fünf auf zwei Treffer. Und Trainer Pep Guardiola antwortete auf die Frage, wie er mit jemandem umgehe, der in wenigen Tagen sieben Tore schießt, ob er ihm Blumen ins Training mitbringe oder noch mehr Tore einfordere: "Ich lasse ihn heute aufs Oktoberfest."

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SZ vom 28.09.2015
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