Süddeutsche Zeitung

SZ-Glosse "Linksaußen":Erkenntnisse aus dem Weltraum

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Wenn 97-Jährige Auto fahren und jeder Mensch mindestens ein Mal im Leben ins All fliegen soll, ist wirklich alles denkbar - außer vielleicht Fußball ohne Kopfball.

Von Andreas Liebmann

Natürlich drängte sich die Grundsatzfrage auf. Der Fahrer jenes Autos, das am vergangenen Donnerstag bei Holzkirchen auf die B318 Richtung Tegernsee auffuhr, hatte nun mal einen Sattelzug übersehen. Das ist gar nicht so einfach, es machte rumms, die Fahrzeuge kollidierten, hinterher stand im Polizeibericht, dass der Fahrer 97 war und unverletzt blieb.

Man könnte nun die Leistung hervorheben, dass da einer mit 97 noch in der Lage ist, Auto zu fahren (bis kurz vor dem Aufprall sogar unfallfrei). Trotzdem stellte sich Außenstehenden, die das eigentlich wenig angeht, vielmehr die Frage, ob man in diesem Alter wirklich Fahrzeuge lenken sollte. Grundidee: Von außen, also mit Abstand, kann man das oft besser beurteilen als der direkt Betroffene.

Etwa so muss sich das auch William Shatner zurechtgelegt haben, ehe er sich kürzlich vom Amazon-Chef Jeff Bezos kostenlos gen Orbit schießen ließ: Er wolle mal von oben sehen, was wirklich los sei mit dem Planeten. Der 90-jährige Schauspieler versicherte, solche Ausflüge könnten helfen, die Erde zu retten. Hier unten können Betroffene leicht reden von der Klimakrise und kleingeistig argumentieren, solch ein Weltraumtrip sei schädlicher als 400 Transatlantikflüge - erst in der Draufsicht ist echte Erkenntnis möglich. Shatner, der als Captain Kirk einst die Enterprise in ferne Galaxien steuerte, ist fit für sein Alter, er lenkt zwar keine Raumschiffe mehr, ausweislich eines Unfallberichts aus dem Jahr 2019 aber noch den eigenen SUV. "Was ich wirklich jedem sagen will", sagte Shatner nach der Landung, "ist, wie gefährdet und zerbrechlich alles ist - es gibt nur diese dünne Schicht von Atmosphäre, die uns am Leben hält." Wer hätte das von hier unten gedacht...

Mit der aktuellen Debatte über Gesundheitsschäden durch Kopfballspiel verhält es sich ähnlich. Eine US-Expertin hatte vergangene Woche im BR-Politmagazin Kontrovers erklärt, welche Gefahren von Kopfverletzungen im Allgemeinen und Kopfbällen beim Fußball im Besonderen ausgehen und (aus der Entfernung!) ein Kopfballverbot gefordert, zumindest für Kinder. Der Mannschaftsarzt von Jahn Regensburg würde das zum Beispiel unterstützen, der Deutsche Fußball-Bund aber nicht: zu unklare Datenlage. Der DFB gibt nur den Rat, die Zahl der Kopfbälle im Training zu begrenzen und Bälle dafür weniger hart aufzupumpen. Mehr Eingriff ins Spiel ist ihm aus der Nahsicht nicht vorstellbar. Dabei legt nicht nur die US-Forscherin einen Zusammenhang nahe. Eine Studie der Uni Glasgow mit 8000 ehemaligen schottischen Fußballern zeigt, dass die Wahrscheinlichkeit späterer Demenz bei Feldspielern vier-, bei Verteidigern fünfmal so hoch ist wie in der Normalbevölkerung. Nur so als Gedanke von außen: Von den fünf Treffern des FC Bayern in Leverkusen am Sonntag wären ohne Kopfbälle exakt fünf völlig deckungsgleich entstanden. Wir schreiben das Jahr 2021 - und Fußball nur mit Füßen scheint möglich zu sein.

William Shatner übrigens ist FC-Chelsea-Fan, hat aber vermutlich selbst nie Kopfbälle gespielt - nur falls jemand eine Erklärung dafür sucht, wieso er nach seinem Weltraumausflug ernsthaft forderte, jeder Mensch müsse diese Erfahrung machen. Es ist wohl doch sinnvoller, mit 97 Auto zu fahren, als mit 90 ins Weltall zu pilgern. Möge der unbekannte Herr unfallfrei die 100 erreichen.

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