Süddeutsche Zeitung

Spanische Nationalmannschaft:Der Korken fliegt

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Nach dem 5:0-Erfolg danken die Spanier Martin Dubravka, dem unglücklichen Torwart der Slowaken - sowie dem Rückkehrer Sergio Busquets. Das Selbstbewusstsein des Teams ist pünktlich zum Achtelfinale gegen den WM-Zweiten Kroatien wieder aufgefrischt.

Von Javier Cáceres, Sevilla

Luis Enrique hat einen sehr breiten und tiefen Kleiderschrank, das sagt er jedenfalls, und das kam ihm am Mittwoch in Sevilla zupass. Satte 30 Grad Celsius hatte es in der Hauptstadt Andalusiens. Es schwitzten auch Leute, die sich auf der Tribüne nicht bewegten, und erst recht derjenige, der am Spielfeldrand coachen musste wie Luis Enrique.

Am Ende hatte Spanien im abschließenden Gruppenspiel 5:0 gegen die Slowakei gewonnen und sich fürs Achtelfinale gegen Kroatien qualifiziert, und Luis Enrique umarmte seinen ganzen Stab, bekam also obendrauf noch reichlich abstrahlende Körperwärme ab. Das grüne Polohemd, das er während der Partie getragen hatte, tauschte er in der Kabine aus - gegen ein weißes T-Shirt, auf dem das Maskottchen der WM von 1982 zu sehen war: "Naranjito", eine stilisierte Apfelsine, die einerseits putzig war, andererseits für einen der größten Fehlschläge der spanischen Fußballgeschichte steht: das WM-Aus in Runde zwei im eigenen Land.

Der Vergleich mit dem damaligen K.-o. hätte auf der Hand gelegen, wäre es nun gegen die Slowakei schiefgegangen. Und so absurd war der Gedanke nicht. Nach zwei Unentschieden gegen Schweden und Polen fühlten die Spanier vor ihrem Spiel gegen die Slowaken, dass hinter ihrem Rücken nur noch die Wand war. Ein vorzeitiges Ausscheiden trotz Heimvorteils? Nicht nur, aber auch, weil man den Rasen nicht in Form bekam? "Ojú" ist der Ausruf, den die Sevillaner bemühen, wenn's zu heiß wird. Wie sehr die Lage an den Nerven zehrte, ließ sich allein daran ablesen, dass es Spieler gab, die laut Luis Enrique in der zweiten Halbzeit Krämpfe und muskuläre Problemchen erlitten, die wohl auf die Anspannung zurückzuführen gewesen seien. Die anstrengenden Wochen, die sich aus positiven Covid-Tests, Nichtberufung von Real-Madrid-Spielern, Diskussionen um Torlosigkeit und Abwehrfehlern speisten, forderten mit der Hitze Andalusiens ihren Tribut.

Busquets versetzt das spanische Spiel in einen anderen Aggregatzustand

"Mental war die Belastung bislang einzigartig, wegen Dingen, die nichts mit Fußball zu tun haben", räumte Luis Enrique nach der Partie ein. "Es war heute sehr warm, aber mit dem Kick, den uns dieser Sieg verleiht, werden wir uns gut erholen." Ob der Sieg eine Befreiung gewesen sei? Eine Erleichterung eher, sagte er. Das Wichtigste aber sei: Er habe 24 Spieler, "die spitz sind" auf dieses Turnier.

Das Ergebnis entsprach freilich der Überlegenheit, die Spaniens Nationalmannschaft an den Tag legte und die gegen eine an Defiziten reiche slowakische Mannschaft erwartet worden war. Dessen ungeachtet bedurfte Spanien einer helfenden Hand - im Wortsinn. Der slowakische Torwart Martin Dubravka hielt zwar erst einen Elfmeter des weiterhin glücklosen Stürmers Álvaro Morata. Dann erweiterte der Keeper von Newcastle United die Videothek der skurrilsten Torwartfehler jedoch um ein prächtiges Exemplar: Pablo Sarabia von Paris Saint-Germain zielte an den Querbalken, der Ball stieg meterhoch in den Himmel, und als er wieder herunterfiel, muss Dubravka geglaubt haben, er sei in schwerer Bedrängnis. War er aber gar nicht. Statt den Ball schlicht zu fangen und in den Armen zu wiegen, schlug er ihn - patsch! - ins eigene Netz.

"Der hat nicht gerade Uhrmacherhände", freute sich die Zeitung Marca. Das Blatt As nannte ihn freundlich einen "amigo". Im Morgenradio von Andalusiens Sender Canal Sur schlug eine Moderatorin vor, Dubravka ein Monument zu bauen, wie es Helden des Vaterlandes gebührt. Kurioserweise leistete sich später auch der Slowake Juraj Kucka ein ungelenkes Eigentor zum 0:5-Endstand. Dubravka und Kucka teilen sich damit - ¡Olé! - die Spitze der Torjägerliste mit der spanischen Nationalelf, ex aequo mit Álvaro Morata, dem Schützen aus dem 1:1 gegen Polen. Und natürlich mit Aymeric Laporte, Pablo Sarabia und Ferrán Torres, die sich gegen die Slowakei um Spaniens Versöhnung mit dem Tor verdient machten - nachdem Morata einen Elfmeter vergeben hatte.

Gefeiert wurde in Spanien aber vor allem die Rückkehr von Sergio Busquets. Seine bloße Präsenz verlieh der Mannschaft eine andere Statik und versetzte ihr Spiel in einen anderen Aggregatzustand. Auf einmal sah flüssig aus, was vorher nur solide war. Trainer Luis Enrique hatte neben Busquets auch Offensivkraft Sarabia sowie die Verteidiger Eric García und César Azpilicueta von Beginn an aufgestellt, ein tiefer Griff in den Schrank des EM-Kaders also - womit er dem Gedanken folgte, dass man Blockaden am besten löse, indem man "ins Wespennest sticht", wie der Trainer befand. Aber: erst zur gegebenen Zeit. Luis Enrique neigt dazu, siegreiche Mannschaften nicht zu ändern, weshalb die Kroaten davon ausgehen können, dass sie am Montag wohl auf eine baugleiche spanische Startelf treffen werden.

Gesetzt ist in jedem Fall Busquets, der die Bälle gegen die Slowaken in der ihm eigenen Art verteilte, Übersicht zeigte und defensiv bestach. "Er ist ein Spieler, der von vielen Leuten nicht verstanden wird. Aber er ist ein einzigartiger Spieler, eine Garantie", sagte Luis Enrique. Busquets selbst hätte hernach nicht glücklicher sein können. Im ersten Interview nach Schlusspfiff beim spanischen Fernsehen schaffte er es nicht, die Tränen zurückzuhalten. Die Angst, das Turnier wegen der Corona-Infektion zu verpassen, muss groß, die Warterei auf den befreienden PCR-Test eine Tortur gewesen sein. "Ich habe sehr gelitten, einige Kollegen waren erst nach 20 Tagen negativ", sagte Busquets. Das wäre für die EM zu spät gewesen.

"In einem K.o-Spiel sind wir schwer zu schlagen"

Nun geht es gegen Kroatien, ein Name, der den Spaniern großen Respekt einflößt. Vor allem, weil beim WM-Zweiten Luka Modric spielt, der künftige Kapitän von Real Madrid. "Er ist ein großartiger Spieler", schwärmte Busquets. "Aber in einem K.-o.-Spiel sind wir sehr schwer zu schlagen. Wir haben gegen Deutschland und die Niederlande gewonnen, wir haben Selbstvertrauen." Und auch Busquets sah die prophetischen Worte von Coach Luis Enrique durch das 5:0 bestätigt.

Der hatte vor der Partie gesagt, dass seine Mannschaft auf ihn wirke wie eine Flasche katalanischen Schaumweins, die kurz davorstehe, aufzuspringen. So, wie der Cava gegen die Slowakei sprudelte, soll er das auch gegen die Kroaten in St. Petersburg wieder tun, und dann käme es womöglich zum Duell mit den Franzosen, die sich auch ganz passabel auf die Fabrikation von edlen Tropfen verstehen. Sie nennen ihn Champagner.

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