Süddeutsche Zeitung

Schweden im Viertelfinale:Wie machen die Schweden das?

Lesezeit: 4 min

Von Claudio Catuogno, Sankt Petersburg

Die "Superettan", zu Deutsch: "Supereins", macht sich größer, als sie in Wahrheit ist, die Supereins ist die zweite schwedische Liga. Deren Meister war im letzten Jahr der IF Brommapojkarna, der Stockholmer Stadtteilklub stieg dann in die Fotbollsallsvenskan auf, so heißt die Profiliga. Der einstige Europacupteilnehmer Helsingborgs Idrottsförening landete in der Superettan auf dem siebten Platz, solide Mittelklasse in einer insgesamt biederen Zweitklassigkeit. Womit man auch schon beim 1:0 (0:0)-Triumph der schwedischen Nationalelf am Dienstag gegen die Schweiz angelangt wäre, im Achtelfinale von Sankt Petersburg: Andreas Granqvist, der Kapitän der Schweden, wird nach der WM vom FK Krasnodar nach Helsingborg wechseln, zu seinem Heimatklub. Kommt er womöglich mit einer Medaille um den Hals?

Bei der WM in Russland gibt es gerade ein Schwedenrätsel zu lösen: Auch die Schweden machen sich ja schon eine ganze Weile größer, als sie eigentlich sind. Wie schaffen sie das? In der Qualifikation die Holländer hinter sich lassen? In der Relegation die Italiener heim an den Strand schicken? Jetzt die ambitionierten Schweizer rauswerfen, denen es mal wieder gar nichts gebracht hat, dass sie in der Fifa-Rangliste als Nummer sechs geführt werden, die Schweden nur als Nummer 24? Und die einzigen Deutschen in der Arena von Sankt Petersburg, das waren am Dienstag Hunderte Fans, die in Erwartung des sicheren Gruppensiegs schon die Tickets gekauft hatten. Aber Gruppensieger waren dann nicht die Deutschen geworden, sondern die Schweden.

Also, wie machen die Schweden das?

Der Anteil, den Sofie Granqvist daran hat, die Ehefrau von Andreas Granqvist, ist rasch erzählt. Sie erwartet ihr zweites Kind, errechneter Geburtstermin war der Tag des Achtelfinales. Aber Frau Granqvist bestand darauf, dass der Kapitän bei seiner Mannschaft bleibt. Bis zum Ende.

Die Gruppe bleibt weiter intakt, und das ist bei den Schweden definitiv wichtiger als bei anderen: das Kollektiv. Ihre Vereine heißen FC Toulouse und Al-Ain Abu Dhabi, Celtic Glasgow und Hamburger SV, und derjenige, der als Individualist noch am meisten heraussticht, ist der Stürmer Emil Forsberg von RB Leipzig. Forsberg erzielte gegen die Schweiz den Siegtreffer (66.) und sprach danach vom "glücklichsten Tag meines Lebens".

Aber nach dem Abpfiff sangen die schwedischen Fans nicht etwa seinen Namen. Sondern den des Trainers Janne Andersson. Der Star ist im Fußball immer nur dann der Trainer, wenn sich auf dem Platz kein Spieler aufdrängt für diese Rolle, selbst wenn dieser Trainer zuvor IFK Norrköping trainiert hat. Ob er da auch eine Art Symbol sei, wurde Andersson gefragt. Nun, antwortete er, "das ist für mich natürlich surreal: in Sankt Petersburg an der Seitenlinie zu stehen, und die Leute singen meinen Namen. Wenn ich ein Symbol sein soll, kann ich damit leben. Aber es geht nicht um mich, es geht um das Team."

Dass eine Mannschaft mehr sein muss als die Summe ihrer Einzelteile, das ist leichter gesagt als umgesetzt. Leidenschaft hilft, aber Talent und taktische Disziplin gehören auch dazu. Zu letzterem gehen die Schweden allerdings selten ins Detail; wenn man ihnen taktische Fragen stellt, bekommt man allgemeine Antworten über Teamgeist, Kampfesmut und das Ziel, Geschichte zu schreiben. Man musste deshalb am Dienstag den Verlierern zuhören: Granit Xhaka, Valon Behrami und dem Trainer Vladimir Petkovic.

Dabei hatte der ehemalige Gladbacher Xhaka von allen noch am wenigsten begriffen. "Wir waren das bessere Team, sie haben ein Tor geschossen", war seine Analyse. Den Eindruck der heimischen Reporter, dass ihm selbst nicht viel gelungen sei, konterte er mit Hinweis, er habe "so viele Flanken geschlagen wie selten zuvor, daran hat es sicher nicht gefehlt".

Allerdings waren die Flanken eher Ausdruck von Not und Fantasielosigkeit gewesen, der Plan der Schweizer war jedenfalls ein völlig anderer. "Nein, das wollten wir so nicht", sagte Trainer Petkovic, "aber wir haben zu langsam von hinten aufgebaut. Wir wollten über die Flügel kommen, mit Diagonalpässen." Aber da standen dann immer "zwei homogene schwedische Viererketten mit körperlicher Präsenz" und verstopften die Passwege. "Sie haben genau das gemacht, was sie wollten - das war heute gegen uns genug", sagte Petkovic.

Und die Schweizer Leidenschaft für das große Ziel, fürs erste Erreichen eines Viertelfinales seit 1954? Wo war die? "Sicher haben uns auch die Emotionen gefehlt", gab Petkovic zu, "aber die Schweden spielen so, dass es schon Mannschaften vor uns nicht geschafft haben, Emotionen ins Spiel zu bringen." Petkovic klang, als sei seine Elf gerade auf ein gigantisches Täuschungsmanöver hereingefallen.

Den Gegner in dem Gefühl wiegen, er habe alles im Griff, der Ball läuft doch - fehlt nicht bloß der letzte Abschluss? Alles ein bisschen herunterdimmen - und dann selber zuschlagen. Wären die Schweizer tatsächlich die bessere Mannschaft gewesen und nicht nur die mit mehr Ballbesitz (64 Prozent), dann hätten sie hinterher kaum einräumen müssen, dass für sie gar nichts nach Plan lief. Auch der Defensivspieler Behrami hatte zu spät begriffen, was da lief, konnte es aber hinterher wenigstens treffend in Worte fassen: "Sie zwingen dich, das Spiel zu machen. Aber du machst einfach kein Tor. Dann nimmst du irgendwann zu viel Risiko - und bist plötzlich in Unterzahl gegen ihre Konter." Der Trainer Petkovic sagte: "Sie haben unserem Spiel das Flüssige genommen. Sie haben es irgendwie verklebt."

24 Jahre hatte es keine schwedische Elf mehr in ein WM-Viertelfinale geschafft, auch nicht in den Jahren mit Zlatan Ibrahimovic, dem größten Exzentriker des Weltfußballs. Heute ahnt man, dass das eine mit dem anderen zusammenhängt: das Fehlen Ibrahimovics, 36, der seine Karriere bei Los Angeles Galaxy ausklingen lässt und auf dessen Nominierung der Trainer Andersson verzichtet hatte - und der Erfolg als Kollektiv. "Darüber will ich nicht reden", sagte Emil Forsberg in Sankt Petersburg, wie auch alle anderen Schweden. Aber es liegt ja auf der Hand. Für Ibrahimovic wäre das jedenfalls nichts gewesen: eine Taktik, bei der der Trainer der Star ist.

England, der Gegner im Viertelfinale, darf sich vor allem nicht verkleben lassen.

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Quelle:
SZ vom 05.07.2018
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