Süddeutsche Zeitung

Schalke 04:Wenigstens die zweite Halbzeit gewinnen

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Von Philipp Selldorf, Dortmund

Das Tor zum 3:4, das Daniel Caligiuri nach lustiger Slalomfahrt durch die Menschenmenge im Dortmunder Strafraum erzielt hatte, wurde auch vom Schalker Mitspieler Amine Harit mit großer Anteilnahme gefeiert. Dass allerdings der junge Franzose auf einem Bein hüpfte, geschah nicht aus Übermut, sondern wegen Schmerz und Beschädigung: Harit war einige Minuten zuvor von seinem Gegenspieler quasi überrannt worden, Gonzalo Castro stieg ihm mit vollem Körpergewicht auf die Wadenbeine. Dass Deniz Aytekin dafür lediglich die gelbe Karte zeigte, war nicht die einzige Fehlinterpretation, die sich der Schiedsrichter leistete (auch den Schalkern ersparte er im Fall von Thilo Kehrer einen fälligen frühen Platzverweis). Harit musste lange behandelt werden, zwei Helfer stützten ihn dann auf dem vermeintlich vorgezeichneten Weg in die Kabine.

Doch plötzlich kehrte der 20-Jährige, versehrt wie er war, zurück auf den Platz. Da ihm die DFB-Statuten keine Gehhilfen gestatteten, bewegte er sich humpelnd und wackelnd fort. Von außen war das ein schlimmer Anblick, und bei näherer Betrachtung wohl ebenfalls: "Die Wade sieht fürchterlich aus", teilte Schalkes Manager Christian Heidel später ergriffen mit.

Aber die Rückkehr sollte sich für alle lohnen. Sobald der einbeinige Harit die Besetzung komplettierte, ging Schalke wieder dazu über, den Druck auf die Dortmunder Abwehrstellungen zu forcieren. Diese letzten Minuten seien "sehr hart" für ihn gewesen, gab Harit zu, "ich habe meine beiden Beine nicht mehr gespürt". Was er aber spürte, war der Drang, in dieses wilde Fußballspiel einzugreifen: "Ich wusste ja, dass wir nicht mehr wechseln durften", erzählte er, "laufen konnte ich nicht mehr viel, aber für die Mentalität war es wichtig, dass ich zurückkomme, denn mit mir waren wir wieder in der Überzahl." Als Naldo das 4:4 erzielte und im königsblauen Universum einen Urknall auslöste, jubelte Lazarus Harit wieder auf beiden Beinen. Adrenalin und Glücksgefühle hatten ihn kuriert.

Fährmann provoziert die Fans - und entschuldigt sich dafür

Immer wieder sollten nach dem Spiel die Schalker Profis und ihr Trainer berichten, welche geheimen Zaubermittel sie zur Halbzeit eingesetzt hatten, dass es ihnen gelang, aus diesem 0:4 ein 4:4 zu machen. Dem jungen Trainer Domenico Tedesco wurden wahre Wundertaten zugesprochen. Offenbar hatte er auf seine ruhige, eindringliche Art die richtigen Worte gefunden, als er Order gab, das Resultat gedanklich auf Null zu stellen und zwecks Ehrenrettung "wenigstens die zweite Halbzeit zu gewinnen", wie er später erzählte.

In dieser höllischen Situation habe der Trainer zwei Möglichkeiten gehabt, sagte Leon Goretzka: "Die eine ist, auf die Mannschaft einzutreten. Die andere ist, die Spieler nochmal ins Boot zu holen. Das ist die Variante, die ich für besser halte." Tedesco und Goretzka haben später ein schönes Jubelpaar abgegeben, als die Schalker ihr Wunder feierten, und wenn der von Spitzenklubs aus aller Welt umworbene Nationalspieler tatsächlich überlegen sollte, seinen auslaufenden Vertrag zu verlängern, liegt das vor allem am Glauben an den Trainer, der innerhalb weniger Monate ein neues Schalke-Gefühl geschaffen hat.

Noch wichtiger als die moralische Pausentherapie war aber der handwerkliche Eingriff, mit dem Tedesco nach einer halben Stunde die verloren gegangene Wettbewerbsfähigkeit wieder herstellte. Die Einwechslungen von Harit und Goretzka, die beide nach auskurierten Verletzungspausen vorsichtshalber auf der Bank gesessen hatten, korrigierten das Ungleichgewicht auf dem Platz. Schalke spielte auf einmal Fußball, statt lange Bälle durch die Gegend zu schicken. Mit Wiederbeginn zeichnete sich ab, dass die Partie noch nicht entschieden sein musste.

Während Goretzka die Offensive vorantrieb und mit seinen Läufen in die Tiefe gefährlich machte, stiftete Harit mit Tempo und Soli wie ein Ein-Mann-Stoßtrupp Verwirrung in der BVB-Deckung. Ausgerechnet der Oberschalker Ralf Fährmann hätte die Aufholjagd fast verhindert, als er Aubameyang die Vorlage zum 0:5 servierte - im letzten Moment konnte er die Sache reparieren. Ansonsten hatte Fährmann in den 97 Minuten kaum einen Ball zu halten.

Zum Derby-Hauptdarsteller wurde er erst, als das irre Spiel vorbei war. Allein vor der Südtribüne stehend, hatte er sich aufs Schalker Wappen geklopft, Nuri Sahin eilte zur Verteidigung der Borussen-Ehre hinzu, ein Tumult nach Eishockey-Art entstand. Im Sinne der diplomatischen Beziehungen entschuldigte sich Fährmann für seine Provokation. Goretzka zitierte indes Tedesco, um die philosophische Dimension des Festtages zu erfassen: "Der Trainer hat gesagt, das Wichtigste sei, dass man im Leben Momente sammelt. Und ich glaube, heute haben wir alle einen Moment gesammelt."

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SZ vom 27.11.2017
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