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Schach:Ein 14-Jähriger spielt den Weltmeister müde

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Von Martin Schneider

Magnus Carlsen ist müde, als er von der "epischen Schlacht" spricht. Immer wieder reibt er sich mit dem Finger ins Auge, zuckt mit der Schulter, seine Augenlider hängen tief, mehrmals sagt er im Interview, dass er sich darauf freue, jetzt auszuruhen. Sechs Stunden und 45 Minuten hat Carlsen, der Weltmeister und vielleicht beste Schachspieler der Geschichte, gebraucht, um einen gewissen Vincent Keymer zu bezwingen, 14 Jahre alt, aufgewachsen in Saulheim bei Mainz. "Er ist offensichtlich ein guter Spieler", sagt Carlsen. Es sei schon klar gewesen, dass es gegen ihn nicht einfach werden würde. Aber er, Carlsen, habe gegen seinen Gegner zu viele Tricks versucht. Tricks, die Keymer durchschaute.

Gerade laufen in Karlsruhe und Baden-Baden die Grenke Chess Classics, ein Schachturnier, das man kaum besser besetzen kann. Carlsen spielt mit, der im vorigen November in London zum vierten Mal Weltmeister wurde; Fabiano Caruana ist dabei, der Carlsen bei dieser Gelegenheit herausgefordert und ihm zwölf Mal ein Remis abgetrotzt hatte. Viswanathan Anand spielt auch mit, der vor Carlsen Weltmeister war, dazu kommen noch ein paar andere, herausragende Spieler. Und eben dieser Schüler aus Mainz.

Man muss dazu wissen, dass Vincent Keymer nicht etwa mitspielt, weil die Veranstalter auf eine Schlagzeile hofften: "Deutsches Wunderkind fordert Carlsen heraus". Nein, Keymer spielt mit, weil er sich ganz regulär dafür qualifiziert hat. Beim entsprechenden Turnier im vergangenen Jahr ließ er 49 Großmeister hinter sich; er gewann acht von neun Partien, obwohl er mit damals 13 Jahren selbst noch kein Großmeister war. In anderen Sportarten würde man von einer "Demonstration" oder von einem "Erdrutschsieg" sprechen. Die Zuschauer in der Halle applaudierten ihm stehend. Spätestens seit diesem Coup kennt ihn die deutsche Schachszene. Und nun kennen ihn auch die Besten der Besten.

Die Sportart Schach bringt es mit sich, dass einige Spieler sehr jung sehr gut sind. In anderen Disziplinen müssen erst die Muskeln auswachsen, im Schach kann das Gehirn schon früher Erstaunliches vollbringen. Deswegen nutzt sich die Bezeichnung "Schach-Wunderkind" ab, aber man kann dennoch guten Gewissens sagen, dass Keymer ein besonderer Spieler ist. "Er ist unbestritten ein Riesentalent", sagt der Großmeister Stefan Kindermann, Geschäftsführer der Münchner Schachakademie, der für die SZ regelmäßig große Turniere analysiert: "Er ist sehr jung und sehr stark, und wer in diesem Alter solche Leistungen bringt, der schafft es später in der Regel in die erweiterte Weltklasse."

Für Schach in Deutschland wäre ein Weltklasse-Spieler ein Geschenk

Keymers Karriere beginnt mit fünf Jahren, da findet er zufällig ein Schachbrett und besteht darauf, die Regeln zu lernen. Seinen Eltern - Vater Pianist, Mutter Cellistin - fällt früh auf, dass ihr Sohn ein außergewöhnliches Gedächtnis hat. Mit sechs Jahren spielt er sein erstes größeres Turnier und besiegt Achtjährige. Seitdem bezwingt er dauernd ältere Gegner. Erst jetzt, bei den Besten der Welt, kommt er an seine Grenzen. Am vergangenen Mittwoch gewann er sein erstes Spiel in diesem Weltklasse-Turnier. Sein Gegner, Georg Meier, ist der zweite Deutsche im Feld. Meier hat die höhere Elo-Zahl als Keymer, mit der Schachspieler ihre Stärke messen, aber viele Experten sagen, dass Keymer stärker spielt, als seine Zahl vermuten lässt. "Wenn er irgendwann auf die Profikarte setzen sollte, glaube ich, dass er es in die Weltklasse schafft", sagt Kindermann.

Für Schach in Deutschland wäre ein Weltklassespieler ein Geschenk. Der Deutsche Schachbund hat fast 90 000 Mitglieder, aber einen richtigen Top-Spieler gab es zuletzt in den 1980er Jahren mit Robert Hübner. Davor gab es Emanuel Lasker, den einzigen deutschen Weltmeister, aber das ist fast hundert Jahre her. In Norwegen sorgte Magnus Carlsen für eine Schacheuphorie, ob Keymer das in Deutschland packen kann, mag niemand vorherzusagen. Aber dank ihm kann man zumindest begründet hoffen.

Nach seinem Sieg in Baden-Baden gab Keymer ein Interview, er sprach dabei fließend Englisch. Was er aus den Partien gegen die ganz Großen gelernt habe, wurde er gefragt. "Dass sie sehr stark sind, dass sie bessere Spieler sind als ich - aber dass ich trotzdem eine Chance gegen sie habe", sagte er und klang dabei nicht mal kämpferisch.

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Quelle:
SZ vom 27.04.2019
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