Süddeutsche Zeitung

Riesenschanze am Kulm:Wenn die Angst mitfliegt

Lesezeit: 3 min

Von Lisa Sonnabend

Trotz allem, was passiert ist, kommt Thomas Morgenstern wieder zur Riesenschanze am Kulm. Im vergangenen Jahr hatte der Österreicher in der Luft das Gleichgewicht verloren, er schlug erst mit dem Rücken auf den Schnee auf, dann mit dem Kopf. Körperlich erholte sich Morgenstern rasch, doch er bekam den schweren Sturz nie aus dem Kopf. Wenige Monate später beendete der 28-Jährige seine Karriere.

Morgenstern fliegt diesmal die Schanze nicht hinunter, stattdessen wird er im Auslaufbereich stehen und hinaufschauen. Auch das dürfte ihn ein bisschen Überwindung kosten. Denn der Kulm, die größte Naturflugschanze der Welt, ist nun noch imposanter als im vergangenen Jahr.

Damit in Bad Mitterndorf 2016 die Weltmeisterschaften im Skifliegen stattfinden können, wurde die Sprunganlage aufwändig umgebaut. 600 Tonnen Stahl und 3000 Kubikmeter Beton wurden verarbeitet. Der Schanzentisch wurde angehoben. Der Anlauf ist um 23 Meter kürzer, dafür aber viel steiler. Das bedeutet: Hier sind jetzt noch größere Weiten möglich. Wenn die Bedingungen stimmen, könnten am Wochenende die Springer mehr als 246,5 Meter fliegen. Es wäre Weltrekord. Doch dieses Wort nimmt am Kulm inzwischen kaum einer mehr in den Mund.

Zwei Unfälle in Bischofshofen zu Beginn der Woche haben die Skisprungszene erschüttert: Der Amerikaner Nicholas Fairall zog sich nach einer missglückten Landung Verletzungen an der Wirbelsäule zu. Der Schweizer Simon Amman blieb nach einem Sturz bewusstlos im Schnee liegen, erlitt aber glücklicherweise nur eine Gehirnerschütterung.

Noch vor ein paar Tagen hatte Hubert Neuper, Chef des Organisationskomitees, von einer Bestmarke geschwärmt: "Es wird gigantisch. Der Rekord ist möglich." Nun sind von dem ehemaligen Vierschanzentournee-Sieger leisere Töne zu vernehmen: "Die Sicherheit ist das oberste Gebot", sagt er. Für den Wettbewerb sei es ohnehin wichtiger, wenn mehrere Springer weit fliegen als wenn ein einziger eine irrwitzige Weite hinlegt.

Walter Hofer, als Fis-Renndirektor verantwortlich für das Springen, stellt klar: "Wir führen nur Wettkämpfe durch, bei denen Athleten sicher landen können." Der Weltverband erkennt die Flugrekorde nicht an, der 246,5-Meter-Satz des Norwegers Johan Remen Evensen in Vikersund 2011 gilt deswegen nur inoffiziell. Das Wetteifern um immer größere Weiten will die Fis verhindern, um die Gefahren für zu ehrgeizige Springer zu minimieren.

Am Donnerstagnachmittag stapfte Gregor Schlierenzauer die Schanze hinauf. Der Österreicher durfte den neuen Kulm eröffnen. Der Fernsehsender ORF übertrug den Eröffnungsflug der Schanze live. Am Wochenende werden mehr als 50 000 erwartet. Höher und weiter - das erregt Aufmerksamkeit, auch im Skispringen.

Schlierenzauer landete bei seinem Probesprung nach nur 190 Metern. Doch am Tag danach fiel der Schanzenrekord sogleich: Severin Freund kam im Training auf 237,5 Meter. Sechs Meter weiter als der bisherige deutsche Rekord.

Die Rekordjagd flößt manchen Athleten auch Respekt ein. Marinus Kraus etwa lässt den Wettkampf aus. In Oberstdorf war der deutsche Springer von einer Böe erfasst worden. Mit viel Glück gelang es ihm, die Balance in der Luft wiederzufinden. Doch das Erlebnis wirkt nach. "Marinus hat nicht die geistige und körperliche Frische, um auf dieser Riesenschanze ein grandioses Ergebnis machen zu können", begründete Bundestrainer Werner Schuster die Entscheidung, Kraus nicht fliegen zu lassen. "Die Kräfte am Kulm sind riesig. Da darf der Sportler keinen Fehler machen und materialmäßig nichts schiefgehen."

Die Verantwortlichen der Skisprungszene beteuern: Auf einer Riesenschanze sei das Risiko nicht größer als bei einer kleineren Anlage. Organisator Neuper sagt sogar, der neue Kulm sei sicherer geworden. Der Aufsprungbereich sei nun flacher, die Landung für die Springer besser zu kontrollieren.

Für das Wochenende ist die Wetterprognose allerdings düster: Starker Wind ist vorhergesagt. Und die Stürze in Bischofshofen zeigten, dass Athleten selbst bei guten Bedingungen immer ein fataler Fehler unterlaufen kann. "Skispringen ist leider eine Sportart, bei der immer etwas passieren kann", sagt Neuper. Der 54-Jährige sprang in den achtziger Jahren am Kulm einmal 170 Meter weit. Wenn es nach Neuper gegangen wäre, hätten sie die Schanze noch weiter angehoben. Weiten von bis zu 300 Meter wären dann möglich gewesen. Doch die Pläne musste er verwerfen.

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