Süddeutsche Zeitung

Radsport:Anpacker vom Ammersee

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Im Herbst lag Radrennfahrer Alexander Steffens nach einem Sturz auf der Intensivstation. Nun hat er inmitten der Pandemie einen Verein gegründet - und plant die Mitfahrt bei der Tour de France.

Von Benjamin Emonts

Alexander Steffens sitzt grinsend an einem Apfelbaum und spricht von den Champs-Élysées - allein das ist schon bemerkenswert. Noch im Oktober lag der ambitionierte Radrennfahrer nach einem Sturz mit lebensbedrohlichen Verletzungen auf einer Intensivstation in Slowenien - seine Zukunft war völlig ungewiss. Jetzt aber kann er wieder träumen. Er grinst, weil er tatsächlich daran glaubt, irgendwann bei der Tour de France dabei zu sein, der größten Rundfahrt der Welt. Und ein anderes großes Ziel hat er ausgerechnet jetzt, in der Krise, bereits erreicht: Steffens hat in nur wenigen Monaten einen Radsportverein in seiner Heimat am Ammersee gegründet: das AS Cycling Team.

Jammern ist generell nicht Steffens Ding - eher schon Anpacken. An diesem Nachmittag kommt der gebürtige Dießener, 27, blonde Haare, blau-graue Augen, gerade von einer 120 Kilometer langen Trainingsfahrt, die ihn bis kurz vor Augsburg geführt hat. Er hat sich Badelatschen, einen Hoodie und ein Baseballcap übergezogen. Steffens wirkt eher wie ein Surfer, wenn er so lässig über seine Pläne erzählt. Er hat diese unbeschwerte, selbstüberzeugte Art, die ihn die Herausforderungen angreifen lässt, ohne lange zu zweifeln. Er ist ein gnadenloser Optimist.

Wenn er über seinen Unfall spricht, zitiert Steffens einen berühmten Satz von Winston Churchill, der zu seinem Lebensmotto geworden ist: "Die Kunst ist, einmal mehr aufzustehen, als man umgeworfen wird." Mit dieser Einstellung hat er bereits einen Schädelbruch als Fußball-Torwart und eine schwere Meniskusverletzung überstanden. Auch über die jetzige Zeit will er nicht klagen. Er habe die Chance bekommen, zu alter Form zu finden, um sich den Traum vom Profiradsport zu erfüllen, so sagt er. Und schließlich nutzte er die Zwangspause ja auch, um seinen Verein zu gründen. In der Krise sieht Steffens für den Radsport nämlich eine große Chance. Die Straßen seien wieder voll mit Radfahren, sagt er, das Radsportgeschäft nebenan könne sich vor Aufträgen kaum retten. Diesen Schwung wolle er mitnehmen. Die Menschen aus der Region, egal ob jung oder alt oder mit körperlicher Beeinträchtigung, sollen zum gemeinsamen Radfahren motiviert werden. "Wir wollen genau jetzt in dieser verrückten Zeit den Leuten eine Perspektive bieten", sagt er.

Die Idee dazu ist ihm im Krankenhaus gekommen. Steffens hatte mental einiges aufzuarbeiten. Noch kurz vor seinem Sturz hatte er den Profivertrag schon vor Augen. Nach zehn Jahren in der Triathlon Bundesliga fuhr er als Allrounder seit 2018 erfolgreich nationale Lizenzrennen und Meisterschaften sowie internationale Radmarathons und Rennen der UCI Granfondo World Series. Gleich im ersten Jahr, so erzählt er, gelangen ihm "aus Versehen" mehrere Siege, obwohl keiner der Radspezialisten mit ihm gerechnet hatte. Steffens fiel mit seinen Erfolgen auf. Mit einem Sieg in der slowenischen Hauptstadt Ljubljana war ihm Juni 2018 mit Landesrekord sensationell der Durchbruch gelungen.

Als Lohn für seine Erfolge verbrachte er im vergangenen Herbst einen Monat als Stagiaire - so heißt ein Praktikant im Radsport - beim slowenischen Profi-Team LGS. Nach guten Leistungen stand er kurz vor der Vertragsunterschrift. Am 13. Oktober ereignete sich dann der tragische Unfall in seiner "Schicksalsstadt" Ljubljana. Steffens übersah bei Tempo 50 ein Schlagloch, er stürzte in einen Graben und prallte mit dem Rücken auf ein Abflussrohr. Er brach sich das Schulterblatt, sechs Rippen und quetschte sich die Lunge. Sein Leben stand auf der Kippe. Nach zwei Wochen auf der Intensivstation kämpfte sich Steffens aber wieder einmal zurück. "Ich bin bislang immer stärker zurückgekommen nach meinen Unfällen", sagt er.

Der Zeitpunkt der Vereinsgründung ist dennoch mutig gewählt. Mehr als in anderen Sportarten sind ambitionierte Radsportvereine stark von Sponsoren abhängig, die nach der Dopingkrise erst allmählich zurückkamen. Die Krise bringt nun viele Unternehmen in wirtschaftliche Bedrängnis. Der finanzielle Druck auf den Rennzirkus wächst, manches Team und mancher Profi könnten bald von der Bildfläche verschwinden. Die großen Straßenrennen, bei denen sich Fahrer und Sponsoren präsentieren können, sind auf Monate hin abgesagt. Der Weltverband UCI plant einen Neustart am 1. August. Die Tour de France beispielsweise soll am 29. August in Nizza losrollen.

Steffens und seinen Mitstreitern ist es dennoch gelungen, den Verein in kurzer Zeit auf ein sicheres Fundament zu stellen. Er hat eine ansehnliche Website, eine PR-Beauftragte, einen Chef-Mechaniker, 18 radfahrende Mitglieder, Steffens Vater als Kassier und ihn selbst als Team-Manager und Gesicht des Vereins. Vor allem aber hat Steffens es wegen seiner sportlichen Erfolge geschafft, acht namhafte Sponsoren an Land zu ziehen, darunter internationale Radmarken und namhafte regionale Unternehmen. Sie unterstützen den Verein auch jetzt in der schwierigen Zeit. Steffens selbst steckt zudem in der komfortablen Situation, als Amateur unter Profibedingungen trainieren zu können. Ein Unternehmer aus der Region hat ihm eine Festanstellung als Fitnesstrainer gegeben, die ihm viel Zeit zum Trainieren lässt.

Auch für Steffens persönliche Ziele dürfte der Verein noch hilfreich sein. Zum einen braucht man als Fahrer bei Lizenzrennen einen Verein, worum er sich jetzt keine Gedanken mehr machen muss. Zum anderen hat er in seinen Freunden Christian Hackl und Christoph Drewes zwei ambitionierte Radfahrer mit viel Wettkampf- und Trainererfahrung um sich versammelt. Sie haben den Verein mitbegründet und können ihn bei den Rennen unterstützen. Denn sobald es weitergeht, will sich Steffens mit Podestplätzen in den Fokus der Teams und Sponsoren fahren. Auch ein ausländisches Team sei denkbar, sagt er, weil im deutschen System eher auf junge Fahrer bis zur U23 gesetzt würde. "Für die bin ich ein alter Sack."

Das gemeinsame Trainieren indes gestaltet sich noch schwierig. Ausfahrten sind wegen der Ansteckungsgefahr nur in Fünfergruppen erlaubt. Alternativ treffen sich die Mitglieder deshalb jeden Mittwoch zu einer virtuellen Radtour, die sie zu Hause auf ihren Rollentrainern absolvieren. Steffens stellt außerdem einzelne Streckenabschnitte, die er abgefahren ist, in eine Chat-Gruppe, sodass die anderen sich an seinen Zeiten messen können. Eine beliebte Herausforderung ist zum Beispiel der Anstieg hoch zum Kloster Andechs.

Bis es aber wieder richtig losgeht, müssen sie sich am Ammersee weiter gedulden. Steffens erzählt bis dahin stolz, dass inzwischen alle das gelb-schwarze Trikot des Vereins tragen und mit 300 Euro teuren Sturzhelmen ausgerüstet wurden. Auf der Straße, sagt er, werde er immer häufiger angesprochen auf den Verein. "Ich sehe hier so viele um den See fahren, warum nicht gemeinsam", sagt Steffens. Am Ammersee, so wirkt es, könnte gerade etwas Größeres entstehen.

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Quelle:
SZ vom 27.05.2020
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