Süddeutsche Zeitung

Radsport:Ameisen zwischen den Fingern

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Die Tour de France war früher das Sehnsuchtsziel im Radsport, heute dominiert dort das ehemalige Sky-Team. Die Konkurrenz bevorzugt immer öfter den Giro d'Italia.

Von Johannes Knuth

Frankreichs Sportpresse hat ihre Tour de France, die sie seit der ersten Stunde mit veranstaltet, schon immer mit poetischem Verve besungen, aber seitdem die Briten vom Radsport-Team Ineos (ehemals Sky) das Rennen bestimmen, haben sich die Reporter noch mal auf ein neues Level gehoben. Tag für Tag erschaffen sie im Juli herrliche Bilder, die wahlweise vor Skepsis, kühlem Respekt oder Schadenfreude triefen. Zum Beispiel als Sky im Vorjahr das Geschehen wieder an sich riss und die Sportzeitung L'Équipe befand, die Briten seien wie ein Bär, "der seine Tatze in die Rundfahrt tunkt wie in ein Honigfass, und der den Honig dann von seinen Klauen ableckt, während die Rivalen wie Ameisen zwischen seinen Fingern krabbeln".

Aber egal wie die Rezensionen auch ausfielen: Der Gesamtsieg wanderte in sechs der vergangenen sieben Jahre in den Besitz von Dave Brailsford und seiner hochgepäppelten Auswahl. Der Teamchef aus Wales, kahler Schädel, stechender Blick, hat sich seine Sieger gewissermaßen im Labor gezüchtet, dank eines Heeres an Experten, Trainern und einer Equipe, die das Tempo im Rennen so sehr hochtreibt, dass ihr kaum ein Widersacher entwischt. Und wer es doch wagt, bezahlt am nächsten Tag doppelt und dreifach für seine Mühen. Die Tour, die ihre Faszination immer aus den Leiden und Legenden zog, bei der Eugène Christophe seine gebrochene Radgabel hinter der Schmiede am Tourmalet zusammenflickte, die von Patronen wie Bernard Hinault geprägt wurde, der Demonstranten eigenhändig von der Straße prügelte, oder von der Angriffslust von Vincenzo Nibali und Alberto Contador - sie ist zu einer Zurschaustellung des Kalküls geworden.

Abwechslung? Ist kaum in Sicht. Christopher Froome will im Juli unbedingt zum fünften Mal das Gelbe Trikot in Paris anlegen, es würde ihn in den Rang von Hinault, Anquetil, Merckx und Indurain heben. Sein Teamkollege Geraint Thomas hat wiederum seinen Vorjahressieg zu verteidigen. Dahinter lauert schon Egan Bernal, 22. Der Chemiegigant Ineos hat Sky mittlerweile als potenter Geldgeber abgelöst; der Konzern ist hoch umstritten, wie auch die Equipe nach diversen Affären um verbotene Praktiken (die das Team bestreitet).

In Italien werden die Fahrer noch bewundert, in Frankreich mit Erdnüssen beworfen

Die spannendere Rundfahrt wird in diesem Jahr jedenfalls wohl wieder nicht in Frankreich stattfinden, sondern beim Giro d'Italia - dort versammeln sich gerade all jene, die keine Lust haben, im Juli bei der Tour von Ineos zermalmt zu werden: Primoz Roglic, der ehemalige Skispringer aus Slowenien, der bis zum Donnerstag das Rosa Trikot des Führenden schon mal ausfuhr, Vincenzo Nibali, wieder die große Hoffnung der Gastgeber, Tom Dumoulin, der nach einem Sturz aber schon abgereist ist, Simon Yates, der im Vorjahr den Sieg spät und spektakulär an Froome verlor. "Meine größte Leidenschaft ist derzeit der Giro", hatte der Brite vor dem Start in Bologna verkündet, die Tour lasse ihn gerade kalt. Pardon, Monsieur Yates?

Ist Rosa jetzt etwa das neue Gelb?

Der Giro stand fast immer im Schatten der Tour, er rollte 1909 los, sechs Jahre nach der Premiere in Frankreich. In Italien war es die Gazzetta dello Sport, die als Veranstalter auftrat und die Geschichten des Rennens auch gleich aufschrieb, in schwarzen Lettern auf rosa Papier. Vor allem natürlich die epischen Duelle, die sich Fausto Coppi und Gino Bartali auf den Schotterstraßen lieferten, während Europa in den Flammen der Kriege zu versinken drohte. Da war auch Alfonsina Strada, die 1924 als bislang einzige Frau eine der drei großen Landesrundfahrten bestritt, und die zwar nicht ihre Radgabel in einer Schmiede flickte, dafür aber immerhin ihre gebrochene Lenkerstange mit einem Besenstiel. Jedes Rennen braucht seine Legenden, mit denen es sich seiner Größe versichert.

Aber die Tour war halt immer noch ein bisschen größer, wuchtiger. Der Giro und die Gazzetta mussten derweil sogar darum bangen, ob das Rennen seinen 100. Geburtstag vor zwei Jahren erleben würde. Vor drei Jahren ging die letzte rein italienische Equipe in der höchsten Radsport- Liga ein, die betagten Helden fuhren entweder ihren Glanzzeiten hinterher oder wurden posthum als Blutdoper enttarnt (wie jetzt Alessandro Petacchi, der alles abstreitet). Urbano Cairo, Verleger der Gazzetta und Mit-Veranstalter des Rennens, verlangte zuletzt nach staatlicher Unterstützung, der Giro sei ein nationales Kulturgut, da solle der Staatspräsident doch zumindest den Sieger auszeichnen.

Dafür haben sich die Umfragewerte unter den Klassementfahrern, die sich meist für eine der beiden kraftzehrenden Schleifen entscheiden, stark verbessert. "Der Giro ist auf einmal der schwerere und abwechslungsreichere Kurs, auch weil es dort keine Mannschaft wie Sky gibt, die alles kontrolliert", sagte Mario Chiesa, Sportdirektor von Nibalis Bahrain-Merida-Equipe, unlängst der französischen Le Monde. Sogar Sky und Froome schafften es im Vorjahr bei ihrem Giro-Abstecher nicht, das ganze Rennen zu bändigen: Viele Bergetappen sind nicht nur schwer, sondern noch länger als jene der Tour; die besten Fahrer sind in den Bergen oft lange auf sich gestellt. Das Wetter ist im Mai zudem unberechenbarer, in diesem Jahr ist es gar so miserabel, dass die Königsetappe über den 2618 Meter hohen Passo di Gavia in Gefahr ist. Dafür seien Organisation und Atmosphäre mittlerweile deutlich wohltemperierter, bilanzierte Le Monde zuletzt gewohnt bild- und stilsicher: "Bei der Tour ist der Fahrer das Zootier, das vom Publikum mit Erdnüssen beworfen wird. Der Giro ist wie ein Museum, in dem die Fahrer wie Exponate bewundert werden." Ach ja, und das Essen sei in Italien auch besser.

Eine Zeitenwende also? Fürs Erste wohl eher eine Momentaufnahme, das Zeugnis von erdrückender Dominanz. Frankreichs Sportpresse kann sich jedenfalls schon mal warmschreiben.

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SZ vom 18.05.2019
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