Süddeutsche Zeitung

Proteste bei der Leichtathletik-WM:Drama um ein Küsschen

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Haben sie sich der Homosexuellen-Politik des Kreml widersetzt oder nicht? Die russischen Sprinterinnen Guschina und Ryschowa zeigen sich empört über die Reaktion auf ihre Jubelgeste bei der WM in Moskau. Die Interpretation ihres Kusses, so die Athletinnen, sei ein Missverständnis.

Von Jonas Beckenkamp

Die Macht der Bilder entfaltet sich besonders gut, wenn das Fernsehen große Momente in die Wohnzimmer transportiert. Auch aus Moskau bei der Leichtathletik-WM hat es sie wieder gegeben: Szenen von riesiger Freude wie beim Jubellauf des deutschen Stabhochsprung-Weltmeisters Raphael Holzdeppe oder Usain Bolts Kalinka-Tanzeinlage auf der Tartanbahn.

Und da war dieser Kuss, über den seit Tagen die halbe Sportwelt diskutiert.

Die Sprinterinnen Julia Guschina und Xenija Ryschowa herzten sich nach ihrem Sieg mit der 4x400-Meter-Staffel am vergangenen Samstag mit einem Bussi auf den Mund. Ein Blick auf das Video der Siegerehrung belegt, dass sich tatsächlich sogar alle vier Staffel-Mitgliederinnen küssten. Was war das nun: ein harmloser Kuss? Oder mutiger Protest gegen die Homosexuellen-Politik in Russland?

Eher Zweiteres, interpretierten weite Teile der Öffentlichkeit. "Der Kuss ist ein Zeichen des Protests gegen das Anti-Homosexuellen-Gesetz" hieß es exemplarisch auf der Webseite der US-Zeitung Huffington Post. Auch andere Medien griffen das Foto auf und waren sicher: Hier beweisen junge Sportlerinnen politische Courage.

Nun wehren sich die Sportlerinnen. Schon am Montag ließ das russische Leichtathletik-Team via Sky News vermitteln: Der Kuss sollte als "Zeichen der Gratulation" gelten, nicht als politische Botschaft. Ryschowa selbst sagte dem Guardian: "Es war nur Freude für unser Team."

Der Kuss mit Kollegin Julia Guschina sei keineswegs als politisches Statement gedacht gewesen. Wie sie es persönlich mit den Regeln gleichgeschlechtlicher Liebe halte, wollte die 26-Jährige lieber nicht enthüllen. Sie sagte stattdessen: "Wenn die Leute schon allerlei Schmutz über uns verbreiten, dann sollten sie zumindest wissen, dass Julia und ich beide verheiratet sind."

Noch deutlicher äußerten sich die Athletinnen gegenüber der russischen Nachrichten-Agentur Ria Novosti. "Gestern habe ich Anrufe von wahrscheinlich 20 verschiedenen Medien bekommen. Statt uns zur Goldmedaille zu gratulieren, beleidigten sie Julia und mich und die gesamte Föderation", erklärte Ryschowa. Mit ihrer langjährigen Kollegin verbinde sie nichts weiter als eine "gute, echte Freundschaft".

Dass die Freude so herzlich ausfiel, findet die Läuferin verständlich: "Acht Jahre lang haben wir kein WM-Gold gewonnen, Sie können sich nicht vorstellen, was wir gefühlt haben. Wenn wir einander während der Gratulation mit den Lippen berührt haben und jemand dies als Anlass nimmt, Phantasien aufzubauen, ist das sehr beleidigend für mich."

Dass es zu der Verbreitung des viel beachteten Bildes kam, liege einzig an den eigenwilligen Interpretationen der Öffentlichkeit, so die Ansicht der Athletinnen. "Das ist die kranke Phantasie des Fotografen, der uns eingefangen hat", sagte Guschina. Sie könne nicht nachvollziehen, warum derartiges Verhalten "nur gegenüber unserem Team" vorkomme. So kehrt sich eine Angelegenheit ins Gegenteil um, die zunächst als Protest verstanden worden war.

Die Reaktion der Sportlerinnen zeigt, wie schwierig die Auseinandersetzung mit gleichgeschlechtlicher Intimität in Russland ist. Seit der Einführung des Gesetzes gegen "Homosexuellen-Propaganda", das in dem nicht immer demokratischen Riesenreich seit 30. Juni gilt, steht das Land vor einem Deutungsproblem. Was heißt es, wenn zwei Männer oder zwei Frauen Küsschen austauschen? Der Gesetzestext besagt, dass Homosexuelle strafrechtlich verfolgt werden, wenn sie sich gegenüber Menschen unter 18 Jahren über gleichgeschlechtliche Liebe äußern, beziehungsweise diese offen zeigen. Doch wer gilt als homosexuell? Und was gilt als eine solche "Äußerung"?

Diese Fragen dürften Wladimir Putin und seine wertkonservative Regierung noch öfter umtreiben - bei der WM in Moskau offenbarte sich, dass bei weitem nicht alle einverstanden sind mit der staatlichen Diskriminierung gleichgeschlechtlicher Liebe. Im Luschniki-Stadion hatte zuletzt die schwedische Hochspringerin Emma Green-Tregaro für Aufsehen gesorgt, als sie öffentlichkeitswirksam mit Regenbogen-Farben auf ihren Fingernägeln gegen den Anti-Homosexuellen-Beschluss demonstrierte. Erst als sie vom Leichtathletik-Weltverband IAAF zurückgepfiffen wurde, bepinselte sie ihre Handspitzen konform in Rot.

Ähnlichen Protest zeigte auch ihre Landsfrau Moa Hjelmer - nachdem zuvor bereits der Amerikaner Nick Symmonds Stellung bezogen hatte, indem er seine Silbermedaille über 800 Meter "seinen schwulen und lesbischen Freunden" widmete. In dieser Reihe tauchten schließlich auch die russischen Sprinterinnen mit ihren Küsschen auf. Wenn man ihren Äußerungen glaubt, war das nun allerdings ein großes Missverständnis.

(Mit Material von dpa)

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