Süddeutsche Zeitung

Premier League:Anstoß auf der früheren Corona-Teststation

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Die Premier League fährt nach der Corona-Pause ihren Notbetrieb hoch - und das in fast demütiger Stille, ganz ohne das Triumphgetöse eines Milliardengeschäfts.

Von Barbara Klimke, München

Kurz bevor der Ball wieder losrollt, hat Marcus Rashford, 22, von seiner Kindheit berichtet: von Schulspeisung und Suppenküchen, von seiner berufstätigen Mutter, die Mindestlohn verdiente und fünf Kinder allein großzog. Rashford weiß, was Rationierung bedeutet: Wenn sie früher im Supermarkt Joghurt im Sonderangebot erstanden, dann wurden die Becher so eingeteilt, dass sie eine Woche reichten. Manchmal knurrte trotzdem der Magen, bis die Mutter abends aus der Arbeit kam.

Deshalb hat der Nationalstürmer Rashford, Fußballprofi von Manchester United, am Montag an die 650 Parlamentarier in Westminster einen Offenen Brief geschrieben: Er bat sie, sich gerade jetzt für Beibehaltung der freien Essensgutscheine zu engagieren, die die Regierung zum Schuljahresende einstampfen wollte: "Erhören Sie die Appelle, finden Sie Ihre Mitmenschlichkeit." Noch sei die Krise nicht vorbei.

Drei Monate ruhte der Sport auf der Insel. Rashford hat in dieser Zeit Spenden für Hilfsorganisationen und Kindertafeln organisiert. Und er gehört wie viele seiner prominenten Kollegen aus der Premier League, wie Paul Pogba oder Liverpools Jordan Henderson und Virgil Van Dijk, auch zu jenen, die ihre Stimme gegen Rassismus erhoben. Schwere Wochen liegen hinter England, mit alarmierenden gesellschaftlichen und gesundheitlichen Fieberschüben. So verwundert es nicht, wenn die Premier League nun in fast demütiger Stille, ohne das Triumphgetöse eines Milliardengeschäfts, ihren Notbetrieb hochfährt.

Noch 92 Partien der Saison 2019/2020 sind zu absolvieren. Die beiden ersten, Nachholbegegnungen des 29. Spieltags, werden an diesem Mittwoch angepfiffen. Zunächst in Birmingham, wo der Tabellenvorletzte Aston Villa (25 Punkte) den Siebten, Sheffield United (43) empfängt. Anschließend folgt das Duell zwischen dem abgeschlagenen Tabellenzweiten Manchester City (57) und dem FC Arsenal (40) im Etihad Stadion von Manchester: auf jenem Fußballcampus, der noch vor kurzem als provisorisches Ausbildungszentrum für Krankenpfleger und als Teststation für das Coronavirus diente.

Selbstverständlich geht es um Punkte und Prestige: Im Falle einer Niederlage Manchester Citys rückt für Liverpool bei 25 Punkten Vorsprung die Meisterfeier noch ein Spiel näher. Bei Arsenal, zurückgefallen auf Platz neun, ist das Erreichen der Europa-League-Plätze eine wirtschaftliche Notwendigkeit angesichts horrender Personalkosten, die schon vor dem freiwilligen Teilgehaltsverzicht der Profis in diesem Jahr 230 Millionen Pfund (257 Millionen Euro) erreichten, wie der Guardian vorrechnete. Gleichzeitig entscheiden die Bilanzen darüber, ob ein Spieler wie Pierre-Emerick Aubameyang gehalten werden kann, der mit nunmehr 30 Jahren mal wieder an einem "Wendepunkt" seiner Karriere angelangt sein will. Und dennoch werden die Gedanken an die Verheerungen der Lungenerkrankung Covid-19, die in Großbritannien so schwer wütete, nicht weit sein bei diesem Spiel in Manchester. Zumal auch beide Trainer, Mikel Arteta und Pep Guardiola, die ihre Mannschaften durch den tristen Abend leiten, von den Folgen der Epidemie gezeichnet sind.

Es war Artetas Infektion mit dem Virus, die am 12. März die Schließung von Arsenals Trainingscenter nördlich von London einleitete und dann binnen weniger Stunden zur Notvollbremsung der gesamten Liga führte. Schon tags zuvor hatte jenes Arsenal-Spiel gegen Manchester City aus Infektionsschutzgründen abgesagt werden müssen, das nun mit Dreimonatsverzug zur Aufführung kommt. Damals war bekannt geworden, dass beim Londoner Klub einige Spieler Kontakt mit Evangelos Marinakis hatten, einem griechischen Reeder und Klubbesitzer, der mit Olympiakos Piräus zuvor Gast in Highbury gewesen war. Auch Marinakis war positiv getestet worden. Erst zehn Tage nach dem Stopp der Premier League übrigens, am 23. März, hatte Premierminister Boris Johnson den Lockdown, die Stilllegung des öffentlichen Lebens, offiziell verfügt.

Artetas Erkrankung verlief vergleichsweise milde: Fieber, Husten, Brustschmerzen, wie er berichtete; er hatte seine Frau, nicht aber die Kinder angesteckt. Sein Trainerkollege Guardiola aber trauerte in Barcelona um engste Familienangehörige.

Beginnen werden alle Matches vor leeren Rängen mit einer Gedenkminute: Auf den britischen Inseln sind mehr als 41 000 infizierte Menschen verstorben. In den Stadien greift ein Hygiene- und Sicherheitskonzept, das sich eng am Vorbild der Bundesliga orientiert. Anders als in Deutschland waren die Teams vorab jedoch nicht in prophylaktischer Quarantäne, und Ersatzspieler sind vom Tragen eines Nasen-Mundschutzes befreit. Dafür wird allen auf der Anreise im Bus noch einmal Fiebermessen verordnet.

Von den über 8000 Virustests der Liga waren bislang nach offiziellen Angaben 16 positiv. Der letzte bestätigte Fall beim Tabellenletzten Norwich wird keine Folgen für das Projekt Re-Start haben, in dem die Absteiger bestimmt werden, in dem sich aber auch entscheidet, wer sich für die Champions League qualifiziert. Neben Leicester auf Platz drei (53 Punkte), Chelsea (48) und Manchester United (45) kann sich sogar Wolverhampton (43) noch eine Chance ausrechnen - sofern Manchester City wegen Verstößen gegen die Finanzregeln der Uefa tatsächlich mit einer Zweijahressperre für Europapokale bestraft wird.

Vom Tisch ist auch der Plan, das Liverpooler Stadtderby am Sonntag auf neutralem Grund auszutragen: Stattdessen darf Trainer Jürgen Klopp mit den Reds im Goodison Park, der Burg des Rivalen FC Everton, auflaufen. Ursprünglich hatte die Polizei in dem Duell ein Hochrisikospiel gesehen - mit einem möglichen Fanauflauf vor geschlossenen Stadiontoren. Den Meistertitel, den ersten nach genau 30 Jahren, könnte der FC Liverpool am Sonntag aber nur dann schon sichern, falls ManCity zuvor gegen Arsenal verlöre, was selbst die Polizeiexperten nun wohl für hypothetisch halten. Außerdem vertrauen Klopp und Co. auf die Vernunft ihrer Anhängerschaft.

Und so beginnt nun der Notbetrieb für eine Liga, die sich im Vertrauen auf ihre gewaltige Finanzkraft irrtümlicherweise lange Jahre immun gegen alle Außeneinwirkungen gefühlt hatte. Verstummt sind die Stimmen, die in der Wiederaufnahme des Milliardenspiels eine "Frivolität" gesehen hatten, während Kranke die Kliniken füllten, wie der Telegraph schrieb. Denn auch die Premier League muss ihre Einkünfte sichern, weil andernfalls heftige Abzüge der Fernsehrechteinhaber drohen.

Neun Spieltage noch: Marcus Rashford, lange verletzt, kann mit Manchester United bei Tottenham auf einen Einsatz hoffen. Seinen größten Sieg hat er schon vorher errungen. Am Dienstag kündigte die Regierung ein "Covid-Sommer-Essensbudget" für Kinder in Höhe von 120 Millionen Pfund an: Essensgutscheine in den Sommerferien.

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SZ vom 17.06.2020
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