Süddeutsche Zeitung

Paralympics:Was für eine Wandlung

Lesezeit: 3 min

2012 in London wurde Annika Zeyen Paralympicssiegerin im Rollstuhlbasketball, in Rio holte sie nochmal Silber. Dann sattelte sie um - und fährt in Tokio mit ihrem Handbike allen davon.

Von Thomas Hahn, Oyama

Ein spitzer Schrei drang durch den Zielraum des Fuji-Speedway in Oyama. Es handelte sich um einen Freudenschrei, soviel war klar. Nur wer ihn abgegeben hatte, konnte man nicht sicher sagen. Annika Zeyen aus Hennef war eine mögliche Absenderin nach ihrem Einsatz beim Handbike-Zeitfahren der Paralympics von Tokio. Denn soeben hatte die Nachricht die Runde gemacht, dass sie, die frühere Rollstuhlbasketballerin, in ihrer Sportklasse die schnellste Zeit abgeliefert hatte. Aber nach den Vormittagsrennen gab es ja auch noch ein paar andere, die Grund zum Jubeln hatten. Erst als Annika Zeyen wenig später mit ihrem Handbike und ausnehmend guter Laune in der Interviewzone parkte, bestätigte sich die Vermutung. "Das war definitiv mein Schrei", sagte sie.

Der Dienstag auf dem kurvigen Asphaltkurs am Fuße des Fuji ist anstrengend und erfolgreich gewesen für die Radsportlerinnen und Radsportler des deutschen Para-Sportverbandes DBS. Japans Nationalberg haben sie zwar nicht zu sehen bekommen, weil der in einer dichten Ansammlung von Wolken steckte. Aber die Bilanz war gut: Acht Medaillen gewannen sie insgesamt, darunter zwei goldene: Neben Annika Zeyen siegte auch die Dreiradfahrerin Jana Majunke aus Cottbus. Bundestrainer Tobias Bachstaffel fand: "Viel besser hätte es nicht laufen können." Am Mittwoch legte Zeyen mit Silber im Straßenrennen noch nach. Ihre Geschichte ist eine besondere.

2012 in London war sie auch schon Paralympicssiegerin, aber damals eben als aufrecht sitzende Führungsspielerin des Rollstuhlbasketball-Teams. In Rio vor fünf Jahren gewann sie als solche nochmal Silber. Und jetzt fährt sie im aerodynamischen Liegesitz ihres Handbikes allen davon. Was für eine Verwandlung.

Der Para-Leistungssport gewährt kreative Sportartenwechsel

Paralympische Karrieren nehmen immer wieder überraschende Wendungen. Das hat sicher damit zu tun, dass die Welt des Para-Sports relativ klein ist, nicht so aufgeladen mit künstlicher Wichtigkeit, extremer Leistungsdichte, Kommerz und Druck wie die Welt des Olympiasports. Der Para-Leistungssport ist nicht weniger anstrengend, aber er ist nicht ganz so ungnädig. Er gewährt Comebacks nach langer Pause und kreative Sportartenwechsel. Und viele Paralympier nutzen diese Chance, weil sie ein ausgeprägtes Bewusstsein für den Wert von Bewegung und Wettkampf haben. So sieht es jedenfalls bei den Paralympics in Tokio aus.

Die sehbehinderte Kanadierin Jessica Tuomela, 38, ist zum Beispiel nach 13-jähriger Paralympics-Pause wieder dabei. 2000 in Sydney gewann sie Silber über 50 Meter Freistil, auch 2004 in Athen und 2008 in Peking startete sie als Schwimmerin. Dann hörte sie auf - aber irgendwann vermisste sie etwas. In Tokio wurde sie Fünfte im Triathlon. Die Japanerin Shoko Ota, 32, ebenfalls sehbehindert, war bei den Winterspielen 2006 und 2010 Medaillen-Gewinnerin im Biathlon und Langlauf. In Tokio tritt sie als Taekwondo-Kämpferin an. Und Eliza Ault-Connell, 39, eine Australierin mit zwei amputierten Beinen, ist nach über einem Jahrzehnt wieder im Rennrollstuhl unterwegs. Den hatte sie vor den Paralympics 2008 zur Seite gestellt, weil sie schwanger war. Mittlerweile sind die Kinder groß genug, um zu verstehen, dass Muttern auf einer großen Sportbühne dabei sein kann. "Sie haben mich ermutigt", sagt Eliza Ault-Connell. In Tokio startet sie über 100 und 400 Meter sowie im Marathon.

Und dann ist da eben die Geschichte der Annika Zeyen.

Annika Zeyen, 36, querschnittgelähmt seit einem Reitunfall vor 22 Jahren, war vorher schon wer im deutschen Parasport. Als Rollstuhlbasketballerin war sie eine Frühberufene, schon bei den Paralympics 2004 in Athen stand sie im Team. Ihre Spielerinnen-Generation hat den Erfolg begründet, den die Mannschaft immer noch hat. Aber 2016, nach 382 Länderspielen und sehr vielen Titeln, machte sie Schluss mit Basketball. "Es war eine bewusste Entscheidung, weil ich immer in der Kombination Verein/Nationalmannschaft gespielt hatte", sagt sie, "man ist da zeitlich extrem eingeschränkt, weil man sich immer nach der Mannschaft richten muss."

Ihr Geheimnis? "Überhaupt kein Geheimnis. Ich war vorher auch schon Leistungssportlerin, ich weiß, was es heißt, sich zu quälen."

Der Ausdauersport vertrug sich besser mit ihrem Privatleben und ihrem Job als Design-Projekt-Koordinatorin beim Internationalen Paralympischen Komitee. Sie entschied sich erst für die Leichtathletik: Rennrollstuhlfahren. Sie war gut. Aber die Belastung passte nicht zu ihrem Körper. "Ich konnte das verletzungsbedingt nicht weitermachen." Also Umstieg aufs Handbike. Sie war wieder gut. Sehr gut sogar. 2019 gewann sie bei der WM in Emmen, Niederlande, das Straßenrennen ihrer Sportklasse.

Und nun ist sie also Paralympicssiegerin, "Unglaublich", sagt sie selbst. Ihr Geheimnis? "Überhaupt kein Geheimnis. Ich war vorher auch schon Leistungssportlerin, ich weiß, was es heißt, sich zu quälen, zu trainieren." Und den Unterschied zwischen Team- und Einzelsport findet Annika Zeyen überschätzt. Sie hat ja auch im Radsport Leute um sich, ihren Heimtrainer Alois Gmeiner zum Beispiel, außerdem: "Coaches, Physiotherapeuten, Techniker". Annika Zeyen sagt: Das ist eine Mannschaftsleistung."

Sie war zufrieden mit ihrer Verwandlung. Feierstimmung hat sie dann aber trotzdem nicht zugelassen. Sie musste sich vorbereiten auf den nächsten Einsatz im Straßenrennen. Nach Jubelschrei und Siegerehrung nannte sie als nächste Programmpunkte: "Ausfahren, Physiotherapie, dann hoffentlich gut schlafen." Und natürlich nach dem Ergebnis ihrer alten Mannschaft schauen. Die Rollstuhlbasketballerinnen spielten im Viertelfinale gegen Spanien. Sie gewannen 57:33. Es war ein wirklich gelungener Tag für Annika Zeyen. Und dann klappte es am Mittwoch auch noch mit Silber.

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