Süddeutsche Zeitung

Paralympics:Nicht erwünscht und doch gewonnen

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Die Snowboarderinnen Cecile Hernandez und Brenna Huckaby holen Gold und Bronze bei den Paralympics. Ihre Teilnahme mussten sie vor deutschen Gerichten erstreiten.

Von Sebastian Fischer

Die Siegerehrung im Snowboard-Cross der Frauen dürfte die ungewöhnlichste dieser Paralympischen Spiele gewesen sein, jedenfalls wenn man die Vorgeschichte kannte. Es wurde die französische Hymne gespielt, Cecile Hernandez stand oben auf dem Treppchen und hatte Tränen der Rührung in den Augen. Brenna Huckaby aus den USA stand neben ihr. Gold und Bronze hatten sie gewonnen. Doch wenn es nach dem Internationalen Paralympischen Komitee (IPC) gegangen wäre, dessen Logo hinter ihnen im Bild leuchtete, hätten sie gar nicht in Peking sein sollen.

Wenige Tage vor Beginn der Wettkämpfe hatte Hernandez in ihrem Zimmer im Paralympischen Dorf per Videokonferenz ein Gerichtsverfahren verfolgt, in dem es um den Grad ihrer Behinderung ging - und darum, ob sie überhaupt starten darf. Es war die vorerst letzte Verhandlung einer monatelangen Auseinandersetzung, die bislang nur zu einem vorläufigen Ergebnis gekommen ist: Hernandez, genau wie Huckaby, musste ihre Teilnahme per einstweiliger Verfügung erzwingen.

Weil der Sitz des IPC Bonn ist, waren deutsche Gerichte zuständig. Der Bochumer Rechtsanwalt Christof Wieschemann vertritt beide Athletinnen. Er sagt: "Niemand hat einen Nachteil dadurch, dass sie dabei sind." Das Verhalten des IPC? Nennt er "beleidigte Leberwurst".

Im Fall von Hernandez und Huckaby geht es um Klassifizierungen, jenes komplexe System, mit dem Behinderungen kategorisiert werden, um Wettkämpfe fair und attraktiv zu machen. Das System hat Schwächen, Debatten darüber sind keine Seltenheit, Grenzfälle gibt es immer wieder, auch juristische Auseinandersetzungen kommen vor.

Die Besonderheit bei Hernandez und Huckaby ist, dass sie ihre Klassifizierung nicht anfechten. Sie starten in einer Klasse, in der sie per Definition eher im Nachteil als sind. Ursprünglich eingeordnet sind sie in der Klasse "LL1", in der unter anderem oberschenkelamputierte Athletinnen konkurrieren. Gold und Bronze haben sie in der Klasse "LL2" geholt, also zum Beispiel gegen unterschenkelamputierte Athletinnen.

Bei den Spielen in Pyeongchang 2018 gewannen beide bereits paralympische Medaillen, in der Klasse "LL1". Huckaby, 26, amputiert über dem rechten Knie nach einer Knochenkrebserkrankung, gewann zweimal Gold, im Banked Slalom und im Snowboard Cross. Hernandez, 47, nach Lähmungszuständen in ihren Beinen mit Multipler Sklerose diagnostiziert, gewann Silber und Bronze.

Bald darauf wurden Huckaby und Hernandez vom IPC informiert, dass sie 2022 in Peking nicht würden antreten können. Ihnen wurde nichts vorgeworfen. Aber es gab zu wenig Konkurrenz in ihrer Startklasse. Es bräuchte sechs Athletinnen aus mindestens drei Ländern, erklärte das IPC. Bei der WM 2019 gingen allerdings nur zwei an den Start, Hernandez und eine Chinesin.

Also fragte Huckaby, ob sie in Peking bei den "LL1"-Männern oder den "LL2"-Frauen mitmachen dürfte. Das IPC lehnte ab. Für faire Bedingungen sollen nur Sportler mit vergleichbaren Beeinträchtigungen gegeneinander antreten, so lautet die Argumentation des Verbands. Es geht dem IPC auch um die Integrität der Wettbewerbe. Eine Regelung, dass geringer eingeschränkte Athletinnen im Zweifel in einer schwerer behinderten Klasse teilnehmen dürfen, gibt es nicht.

"Pauschal" sei das auch nicht sinnvoll, sagt Karl Quade vom Deutschen Behindertensportverband (DBS). Dafür sei das System zu komplex, Behinderungen nicht immer vergleichbar. Doch manchmal ist die Sache wohl schon eher eindeutig. Für den konkreten Fall der zwei Snowboarderinnen hat jedenfalls auch Quade kein Verständnis.

Huckaby und Hernandez wandten sich an Wieschemann. Und Ende Januar verurteilte das Oberlandesgericht Düsseldorf das IPC dazu, Huckaby zuzulassen. Ihr Anwalt hatte argumentiert: Wenn Athletinnen mit einem stärkeren Beeinträchtigungsgrad der Zugang zu Wettbewerben von Athletinnen mit einem geringeren Beeinträchtigungsgrad verwehrt werde, und damit die Teilnahme an einem Ereignis wie den Paralympics, verstoße das gegen Kartellrecht. Das IPC ist Monopolist auf dem Gebiet. Huckaby hatte auch die wirtschaftliche Bedeutung für sie als Profisportlerin angeführt.

Bemerkenswert war die Reaktion des IPC: Man sei "überrascht und enttäuscht", hieß es in einer Mitteilung. Das Gericht zeige "einen Mangel an Verständnis für das Klassifizierungssystem", so wurde IPC-Präsident Andrew Parsons zitiert. Dieses System, hält Wieschemann entgegen, müsse dem Schutz der Schwächeren vor den Stärkeren dienen, nicht umgekehrt. Im Februar gab das Landgericht Köln auch Hernandez recht.

Kanadas Komitee verweist vor Gericht auf Instagram-Fotos von Hernandez

Während der juristischen Auseinandersetzung starteten Huckaby und Hernandez gegen ihren Ausschluss in der Para-Snowboardszene eine Petition. Sie fanden offenbar breite Unterstützung, die SZ konnte Kopien der Unterschriftenlisten einsehen. Auch die Kanadierinnen Sandrine Hamel und Lisa DeJong, am vergangenen Montag Silbermedaillengewinnerin hinter Hernandez und vor Huckaby, unterschrieben demnach. Trotzdem stand der kanadische Verband dem IPC in der mündlichen Verhandlung der einstweiligen Verfügung im Fall Hernandez zur Seite.

Wieschemann berichtet, ein Vertreter des kanadischen Komitees habe behauptet, Hernandez sei mit ihrer Behinderung im Vorteil - und zum Beweis Bilder von ihrem Instagram-Account gezeigt. Das Gericht, sagt Wieschemann, habe allerdings keinen Zweifel daran gelassen, das Urteil zu bestätigen.

In Peking findet noch der Banked Slalom statt, am Samstag, Hernandez und Huckaby haben wieder Medaillenchancen. Die Rechtsstreitigkeiten mit dem IPC dürften weitergehen. Anwalt Wieschemann kritisiert, dem Verband sei "strikte Regelkonformität" wichtiger als die eigentlichen Ziele der Regeln. Er wünscht sich eine grundsätzliche Lösung für Athleten, deren Wettbewerbe wegen zu weniger Teilnehmer ausfallen. Sofern die Leistungsfähigkeit vergleichbar sei, sollen sie immer in der nächsthöheren, potenziell stärkeren Klasse gegen weniger eingeschränkte Athleten teilnehmen dürfen.

Die nächsten Klienten hätten sich schon bei ihm gemeldet, sagt er: Mehr als zehn paralympische Athleten aus Laufdisziplinen, deren Wettbewerbe gestrichen wurden.

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