Süddeutsche Zeitung

San Francisco in der NFL:Steaks für die Schachspieler

Lesezeit: 3 min

Von Jürgen Schmieder, San Francisco

Und plötzlich entdeckte Russell Wilson eine Lücke in der Defensive der San Francisco 49ers. Die komplette Spielzeit über war er bedrängt, belästigt und bearbeitet worden, doch kurz vor dem Ende der Verlängerung wirkte der Spielmacher der Seattle Seahawks wie der weiße König bei der legendären Schachpartie zwischen Nigel Short und Jan Timman: Er lief nach vorne, immer weiter, bis er genügend Raumgewinn erzielt hatte, um Kicker Jason Myers das entscheidende Field Goal aus 42 Yards Entfernung zu ermöglichen.

Es war die erste Niederlage dieser Saison für die 49ers nach zuvor acht Siegen, und doch war klar zu sehen: San Francisco ist qualitativ so hochwertig besetzt, wie es die Bilanz andeutete; und Football wird völlig zu Recht immer wieder als Rasenschach bezeichnet. Wer verstehen will, warum das so ist, der sollte zunächst die Defensive der 49ers betrachten. Für Laien wirken Akteure der Verteidigungslinie wie Bauern beim Schach, die denen des Gegners gegenüberstehen.

San Francisco hat in dieser Saison jedoch zwei Läufer (Nick Bosa und Arik Armstead) und zwei Türme (Dee Ford und DeForest Buckner) auf diesen Positionen. Gegen Seattle erzwangen sie bei elf Spielzügen jeweils Raumverluste, dreimal stibitzten sie den Ball und trugen ihn ein Mal sogar in die gegnerische Endzone. Viel mehr geht nicht gegen diese Offensive, die vom derzeit wohl besten Footballspieler der Welt orchestriert wird, von Wilson eben.

Die taktischen Kniffe von Defensiv-Chef Robert Saleh sind beeindruckend

Der permanente Druck erzwingt taktische Veränderungen beim Gegner: einen zusätzlichen Beschützer für den Spielmacher etwa oder einen weiteren Wegfreiräumer für die Läufer. Die 49ers kamen so in der Verlängerung zu einem Ballgewinn, der nur deshalb nicht zum Sieg führte, weil ihr Ersatzkicker Chase McLaughlin derart weit danebenschoss, dass der Ball im Spielertunnel in der Stadionecke landete.

Die Defensive der 49ers provoziert Vergleiche mit den besten Teams der NFL-Geschichte: den Chicago Bears (1985), den Pittsburgh Steelers (1976) oder den Baltimore Ravens (2000), doch sind all die Verweise unsinnig. Die NFL hat die Regeln in den vergangenen Jahren immer wieder geändert - um die Sportart weniger gefährlich zu machen, aber auch, um den Zuschauern mehr Offensivspektakel zu präsentieren. Es ist deshalb heute umso schwieriger, Angriffsserien des Gegners zu stoppen.

Die taktischen Kniffe von Defensivtrainer Robert Saleh - einem formidablen Schachspieler übrigens - sind deshalb umso beeindruckender, die 49ers wirken trotz aller Restriktionen einschüchternd. Und die Offensive kann im Wissen um die Zuverlässigkeit der Defensivkollegen ähnlich agieren. Die Laufspieler Matt Breida, Tevin Coleman und Raheem Mostert bearbeiten die gegnerische Defensive abwechselnd, die deshalb meist einen zusätzlichen Spieler an der vorderen Linie positionieren muss. Wenn Spielmacher Jimmy Garoppolo - vor ein paar Jahren bei New England als Nachfolger von Tom Brady gehandelt, dann aber auf Druck von Brady zu den 49ers abgegeben - das erkennt, behält er den Ball und wirft dann für meist nur geringen Raumgewinn zu George Kittle.

Das ist nicht besonders spektakulär, aber es ist effizient. Um auch mit langen Pässen ein wenig variabler zu sein, haben sie kürzlich zudem Emmanuel Sanders von den Denver Broncos geholt. Die Offensive ist also wie ein Springer, den der Gegner einfach nicht vom Schachbrett bekommt und der deshalb bedrohlich wirkt.

Die Partie gegen die Seahawks sollte zeigen, ob die 49ers auch mit den Großmeistern des Sports mithalten können. Das tun sie, das 24:27 war eine der spannendsten und qualitativ besten Partien dieser Spielzeit. Gewiss, Garoppolo agierte in der Verlängerung nervös, er musste aber auch ohne Lieblingspassempfänger Kittle (Knieverletzung) und vom zweiten Viertel an ohne Sanders (Rippenblessur) auskommen.

Die 49ers haben also verloren, aber gegen einen Titelanwärter wie Seattle (7:2) gezeigt, dass sie zu Recht dort stehen, wo sie stehen: 8:1 Siege, so erfolgreich sind sonst nur die Patriots. Es ist nur wichtig, bis zum Ende der Hauptrunde vor den Seahawks zu bleiben, die in derselben Division beheimatet sind - eine schlechtere Bilanz als Seattle würde kein Freilos, sondern ein Auswärtsspiel in der ersten Playoff-Runde bedeuten. Das Rückspiel und wohl entscheidende Duell gegen die Seahawks um die Setzliste findet am letzten Spieltag (29. Dezember) in Seattle statt.

Die Verteidiger der 49ers haben seit Saisonbeginn ein Ritual: Am Abend vor einem Heimspiel treffen sie sich in einem Restaurant, in dem riesige und sauteure Steaks serviert werden. Am Ende wirft jeder eine Kreditkarte in einen Topf, die Bedienung zieht eine nach der anderen heraus - der Letzte bezahlt die Rechnung, die schon mal im vierstelligen Bereich liegen kann. Sie wollten dieses Ritual bis zum ersten schlechten Spiel dieser Saison beibehalten. In der Umkleidekabine war nach der Niederlage gegen die Seahawks zu hören, dass sie sich am kommenden Samstag vor der Partie gegen Arizona unbedingt wieder treffen wollen.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.4678553
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 13.11.2019
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.