Süddeutsche Zeitung

Football in der NFL:Die Stand-jetzt-Liga

Lesezeit: 4 min

Das verrückte Weihnachtswochenende in der NFL zeigt: Es gewinnt im Profi-Football nicht immer das beste Team am Ende den Titel - oft ist es die Mannschaft, die von Verletzungen verschont ist und zum rechten Zeitpunkt harmoniert.

Von Jürgen Schmieder, Los Angeles

Es ist, Stand jetzt, durchaus möglich, dass sich die Green Bay Packers und die Miami Dolphins am 12. Februar im Finale der US-Footballliga NFL begegnen werden; und das ist aus zweierlei Gründen interessant. Es ist, Stand jetzt, allerdings nicht besonders wahrscheinlich, und auch das ist interessant, übrigens aus den gleichen zwei Gründen. All das liegt daran, dass die Packers am Weihnachtstag völlig überraschend 26:20 bei den Dolphins gewonnen haben - und dass auch viele andere Partien im amerikanischen Schneechaos so verliefen, dass kaum noch etwas so ist, wie es vor Heiligabend gewesen ist. Packers-Quarterback Aaron Rodgers sagte: "Was passieren musste, ist ganz genau so passiert."

Es sollte keinen wundern, dass es nun ist, wie es ist; die NFL ist nun mal eine Stand-jetzt-Liga, und zwei Spieltage vor Ende der regulären Spielzeit lohnt es sich, diese Situation am Beispiel der beiden Konkurrenten vom Sonntag näher zu betrachten.

Zuerst die Dolphins: Da hätte einen, Stand Anfang September, wohl jeder für ahnungslos erklärt, wenn man sie zu Favoriten auf eine Super-Bowl-Teilnahme gezählt hätte; der TV-Sender ESPN führte Miami zu Saisonstart auf Platz 19 von 32 Teams. Der neue Cheftrainer Mike McDaniel, 39, hat nie Profi-Football gespielt; er war Passempfänger an der Elite-Uni Yale, wo er, das aber nur nebenbei, einen Abschluss in Geschichte schaffte. Er hatte vor dem Job in Miami noch nie die Verantwortung für ein NFL-Team, worauf er bei seiner ersten Pressekonferenz sagte: "Nun, kein Cheftrainer war schon mal Cheftrainer vor seiner ersten Cheftrainer-Station."

Dolphins-Cheftrainer McDaniel ist ein verschroben-witziger Kerl

Es ist ein Experiment mit McDaniel, der kein knorriger Knochen ist, sondern ein intelligenter, selbstironischer und verschroben-witziger Kerl; Typ Startup-Gründer. Es ist ein Experiment mit Spielmacher Tua Tagovailoa, vor der Saison in den Quarterback-Rankings dort angesiedelt, wo auch die Dolphins waren. Und es ist ein Experiment, ob Tagovailoa mit Wide Receiver Tyreek Hill harmoniert; der aus Kansas City gekommen war, wo er Pässe von Patrick Mahomes gefangen hatte - der in so ziemlich allen Quarterback-Ranglisten ganz oben geführt wird.

Es funktionierte zunächst, das Experiment, die Dolphins besiegten die Buffalo Bills (Saisonstart-Ranking: eins) und gewannen später fünf Spiele nacheinander. Stand Ende November galt Miami als eines der stärksten Teams der NFL. Wen interessiert es, was im September gewesen ist?

Nun, das ist die erste Eigenheit der NFL: Natürlich zählt am Ende nur die Anzahl der Siege - für die Bewertung der wahren Stärke eines Teams sind jedoch andere Faktoren wichtig. In einem Sport, der wie kaum ein anderer von Verletzungen geprägt wird, sind dies zum Beispiel: Wie gesund ist das eigene Team, wie fit der jeweilige Gegner? Und überhaupt, gegen wen hat man eigentlich die fünf Siege nacheinander geschafft? Bei den Dolphins waren es allesamt Franchises, die jeweils mehr Spiele verloren als gewonnen haben. Heißt: Nur weil man im November die Bears (3 Siege:12 Niederlagen), Browns (6:9) und Texans (2:12, ein Remis) besiegt hat, bedeutet das noch lange nicht, dass man im Januar in den Playoffs die Bills schlagen wird. Die stehen mittlerweile bei 12:3 - wen interessiert die Niederlage gegen Miami im September?

Was nämlich im Dezember passierte: vier Niederlagen in Serie, am Sonntag gegen die Packers, bei der Tagovailoa drei Mal den Ball in die Arme der Gegner warf - und schon heißt es, die Schwächen von McDaniel und Tagovailoa würden nun von den Gegnern entblößt. Was nach Siegen verschroben-witzig klingen mag, wirkt nach der vierten Niederlage nacheinander hilflos. Am Sonntag sagte McDaniel: "Man darf die Gegenwart nicht zu sehr von der Vergangenheit bestimmen lassen." Widrige Umstände seien immer auch eine Chance: "Deshalb bin ich zuversichtlich, dass Tua diese schwierige Zeit meistern wird."

Das führt direkt zu den Packers, denn all das, und das ist die zweite interessante Erkenntnis, kann auch komplett andersrum laufen. Stand Ende November hätte einen wohl jeder für ahnungslos erklärt, hätte man sie zu Favoriten gezählt - allen voran Spielmacher Rodgers, der sich quasi seit Saisonbeginn (im ESPN-Ranking: Platz sechs) darüber beschwert, dass seine Passempfänger keine Pässe empfangen würden, sondern alle Würfe durch ihre Hände schlüpfen ließen.

Dann aber gewannen die Packers drei Partien in Serie, und plötzlich ist alles anders: Wäre Heiligabend anders verlaufen und hätten die Packers gegen Miami verloren, wären sie selbst rechnerisch ausgeschieden gewesen - nun können sie bei günstiger Konstellation mit zwei Siegen gegen Minnesota und Detroit in die Playoffs einziehen.

Die Kansas City Chiefs und die Buffalo Bills würden aufgrund der NFL-Struktur bereits im Halbfinale aufeinandertreffen

"The Pack is back", sagte Verteidiger Jaire Alexander, der einen für Hill bestimmten Pass von Tagovailoa stibitzt hatte - und der gewöhnlich grummelige Rodgers ergänzte, was in seinem Fall als geradezu euphorisch gelten darf: "Ist doch gut, dass wir nun an Partien beteiligt sind, in denen es um etwas geht."

Es gewinnt in der NFL am Ende nicht immer das beste Team den Titel; sehr oft ist es die Mannschaft, die von Verletzungen verschont bleibt und zum rechten Zeitpunkt harmoniert - genau jetzt, am Ende der regulären Saison und dann in den Playoffs. Deshalb sei angemerkt, dass an Weihnachten sowohl die Kansas City Chiefs (24:10 gegen Seattle) als auch die Buffalo Bills (35:13 gegen Chicago) überzeugende Siege schafften.

Beide sind seit Saisonbeginn die unbestrittenen Titelfavoriten. Allerdings würden sie aufgrund der NFL-Struktur bereits im Halbfinale gegeneinander spielen. Und außerdem kann in der Stand-jetzt-Liga schon kurz nach Neujahr (die Bills spielen gegen Vorjahresfinalist Cincinnati Bengals, die gerade sieben Spiele nacheinander gewonnen haben) schon wieder alles ganz anders sein.

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