Süddeutsche Zeitung

NFL Draft:Die Talente werden jetzt im Keller verpflichtet

Lesezeit: 4 min

Von Jürgen Schmieder, Los Angeles

Die Hände von Joe Burrow sind 22,5 Zentimeter lang. Ja, so was ist allgemein bekannt in den Vereinigten Staaten, und es spielt tatsächlich eine Rolle bei der Bewertung des Nachwuchs-Quarterbacks. Am Donnerstag beginnt der NFL Draft, die jährliche Talentbörse der US-Footballliga, Burrow dürfte trotz seiner winzigen Hände (die von Dallas-Spielmacher Dak Prescott sind fast 28 Zentimeter lang) als erster Spieler dieses Jahrgangs von den Cincinnati Bengals gewählt werden - doch allein die Debatte darüber zeigt, welch groteske Ausmaße das Messen der Talente mittlerweile angenommen hat und wie verrückt die Veranstaltung in diesem Jahr werden dürfte.

Burrow reagierte auf die Diskussion mit einem augenzwinkernden Twitter-Eintrag ("Muss übers Karriereende nachdenken, seit ich weiß, dass mir Footbälle durch die Hände schlüpfen werden. Denkt ab und zu an mich."), er hätte nach seiner Wahl in einem Boot über den künstlichen See vor dem Bellagio in Las Vegas zu einer Bühne gebracht werden sollen, während hinter ihm die berühmten Wasser-Fontänen tanzen, doch dazu wird es nicht kommen. Er wird daheim sitzen, NFL-Chef Roger Goodell wird die Wahl von seinem Keller aus verkünden, die der Manager der Bengals von seinem Wohnzimmer aus an Goodell geschickt haben wird.

Die NFL zieht diese dreitägige Wahl der 255 Nachwuchsspieler trotz Coronavirus-Pandemie durch. Es gibt dieses wunderbare Foto von vor 50 Jahren, zu sehen ist der damalige NFL-Chef Pete Rozelle. Er deutet im Belmont Plaza Hotel in New York auf eine weiße Tafel, ganz oben ist der Name des Quarterbacks Terry Bradshaw gekritzelt, den die Pittsburgh Steelers gewählt hatten. So dürfte es, unter Zuhilfenahme technischer Hilfsmittel, auch an diesem Wochenende aussehen, und wer wissen will, warum das so wahnwitzig ist, der sollte die Evolution des NFL-Drafts kennen.

Groteske Mischung aus Viehmarkt, Psychiater und Wahrsager-Zelt

Die NFL ist ein kapitalistisch-sozialistisches Gebilde, die Liga ist Verband und Unternehmen mit dem klaren Auftrag, die Gewinne der 32 Teams zu maximieren. Es gibt keinen Auf- und Abstieg wie im europäischen Fußball - dafür eine Gehaltsobergrenze, damit sich vermögende Vereine kein Superteam zusammenstellen können. Ganz im Gegenteil: Der Verein mit der schlechtesten Bilanz der Vorsaison (Bengals, 2:14) darf beim Draft zuerst wählen, Super-Bowl-Sieger Kansas City Chiefs in jeder der sieben Runden als Letzter, so soll mittelfristig Chancengleichheit für alle garantiert werden.

Ein Verein kann beim Draft seine Zukunft prägen, positiv wie negativ, weshalb davor gerne an die tollsten Entscheidungen (Tom Brady, New England Patriots, 199. Stelle) erinnert wird, aber auch an Leute wie JaMarcus Russell, den die Oakland Raiders im Jahr 2007 als ersten Akteur gewählt hatten und der seine Karriere nach nur 31 Spielen wegen Übergewicht und Faulheit beenden musste. Genau darin besteht die Kunst von NFL-Managern: Sie müssen bewerten, ob es einer bei den Profis schaffen kann, und dann müssen sie dafür sorgen, dass ihn niemand beim Draft eher wählt.

Es geht deshalb vor dem Draft zu wie auf einer grotesken Mischung aus Viehmarkt, Psychiater und Wahrsager-Zelt. Die Akteure werden gemessen, was sie körperlich leisten können - sie müssen aber auch psychologische Test absolvieren oder bei Gesprächen mit Verantwortlichen der Teams peinliche oder provokante Fragen beantworten, um zu beweisen, dass sie unter Druck mit unvorhersehbaren Ereignissen umgehen können. Anhand dieser Analysen erstellen die Vereine ihre streng geheime interne Reihenfolge (genannt: "The Board"), und dann beginnt das Geschachere mit anderen Franchises.

Es ist nämlich erlaubt, das Wahlrecht zu tauschen. Die Detroit Lions etwa hatten angedeutet, dass sie bereit wären, gegen ein adäquates Angebot auf den Pick an dritter Stelle zu verzichten. Wer also Interesse an den Verteidigern Chase Young, Jeff Okudah oder Isaiah Simmons hatte, jedoch nicht als einer der ersten zehn Vereine wählen darf, der könnte bei den Lions anfragen, was die für dieses frühe Wahlrecht haben wollen. Wie das funktioniert, war beim Comeback von Rob Gronkowski in dieser Woche zu bestaunen: Die Tampa Bay Buccaneers mussten die 139. Wahl abgeben und bekamen dafür Gronkowski und den 241. Pick von den Patriots, die noch immer die Rechte am Tight End besessen hatten.

Es geht also darum, sich einen Informationsvorsprung gegenüber den anderen zu verschaffen und sie dann mit ausgebufften Entscheidungen zu übertölpeln - nur: Wie lässt sich ein Spieler analysieren, wenn man sich nur per Videokonferenz mit ihm unterhalten kann? Wie sollen die Verhandlungen mit anderen Vereinen funktionieren, wenn die Verantwortlichen einer Franchise nicht in einem Zimmer (genannt: "War Room") darüber debattieren können, sondern nur am Telefon? Wird es Angriffe von Hackern geben? Und was passiert, wenn während des Drafts (in der ersten Runde hat jeder Verein jeweils zehn Minuten Zeit für eine Entscheidung, danach weniger) die Internet-Verbindung zusammenbricht wie bei einem Test vor ein paar Tagen?

"Ich glaube, dass sich den Vereinen eine einmalige Chance bietet", sagt Kevin Burkhardt über den diesjährigen Draft, an dem kein deutscher Spieler beteiligt ist. Er ist Experte beim TV-Sender Fox und deshalb in Kontakt mit Managern und Spielern: "Es gibt weniger Druck als in anderen Jahren, weil Verantwortliche bei Misserfolg auf die Umstände verweisen können - sie dürfen also ohne Rücksicht auf die Meinung von Fans oder Experten jene Spieler wählen, die sie wirklich haben wollen."

Für die NFL ist der Draft, da kommt wieder die kapitalistische Komponente ins Spiel, ohnehin eine der wichtigsten Veranstaltungen des Jahres, im vergangenen Jahr sahen an den drei Tagen insgesamt mehr als 47,5 Millionen Leute zu. Es findet derzeit kaum Live-Sport statt, die Leute lechzen nach Events, bei denen tatsächlich was von Bedeutung passiert. Beim Draft der Frauen-Basketballliga WNBA kürzlich sahen 387.000 Amerikaner live zu, mehr als doppelt so viele wie im Vorjahr. Die NFL dürfte deshalb über die drei Tage hinweg neue Einschaltquoten-Rekorde erreichen - ganz egal, ob einer mit dem Boot über einen künstlichen See fährt oder von seiner Wahl im Wohnzimmer erfährt.

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