Süddeutsche Zeitung

US-Footballliga:Erst Mediziner, dann Footballprofi

Lesezeit: 3 min

NFL und Spielergewerkschaft einigen sich darauf, wie die Saison trotz Corona-Pandemie starten soll. Einer will aber nicht mitmachen: Super-Bowl-Champion Laurent Duvernay-Tardif.

Von Tim Brack

Laurent Duvernay-Tardif hat die zehn Tage Bedenkzeit, die ihm zustanden, nicht gebraucht. Ein Tag genügte ihm, um seine Entscheidung zu verkünden: An der nächsten Saison der US-Footballliga NFL, die am 10. September starten soll, nimmt der Super-Bowl-Champion nicht Teil. Grund ist die Coronavirus-Pandemie. Es ist ein beachtlicher Schritt in diesem Geschäftsfeld, dem Kanadier werden dadurch beträchtliche Einnahmen entgehen. Es kommt aber auch nicht ganz überraschend, dass der Mann aus der Offensive Line der Kansas City Chiefs der erste Profi ist, der von der Verzichtsoption Gebrauch macht, die sich in der frisch ausgehandelten Einigung zwischen NFL und der Spielergewerkschaft findet.

Duvernay-Tardif, 29, ist so etwas wie ein Einhorn in der NFL. Der Stammspieler des Champions ist nicht nur ein 1,96 Meter großer, 146 Kilo schwerer Muskelberg, er ist auch der einzige aktive Spieler mit einem abgeschlossenem Medizinstudium. In der Krisenzeit folgte er dem Ruf des hippokratischen Eids und meldete sich als Freiwilliger, um dem medizinischen Personal mit der Flut der Corona-Fälle zu helfen. An der kanadischen Südküste, etwa eine Stunde von Montreal entfernt, half Duvernay-Tardif in einer Einrichtung, die auf Langzeitpflege eingestellt ist. Weil er noch nicht als Arzt praktizieren darf, übernahm der Footballspieler vornehmlich Aufgaben vom Pflegepersonal. Nach dem ersten Tag, das berichtete er in der Sports Illustrated, sei er erschöpft gewesen. Aber: "Ich freute mich darauf zurückzukommen."

"Eine der schwierigsten Entscheidungen meines Lebens"

Seine Arbeit an der Corona-Front beeinflusste diesen ungewöhnlichen Footballprofi nachhaltig. "Ich habe einen anderen Blick auf diese Pandemie bekommen und gesehen, welcher Belastung die Menschen und das Gesundheitssystem ausgesetzt sind", begründete er nun seinen Saison-Verzicht. "Ich kann mir nicht erlauben, dieses Virus in der Gesellschaft zu verbreiten, nur weil ich den Sport treiben möchte, den ich liebe." Seine Schlussfolgerungen daraus sind eindeutig: Der Mediziner Duvernay-Tardif kommt vor dem Footballer Duvernay-Tardif. "Wenn ich ein Risiko eingehe, dann weil ich mich um Patienten kümmere." Dies sei "eine der schwierigsten Entscheidungen meines Lebens, aber ich muss meiner Überzeugung folgen und das machen, was ich persönlich für richtig halte". In den USA grassiert das Virus weiterhin besonders heftig. Über vier Millionen Infektionen zählt die Johns-Hopkins-Universität, über 150 000 Todesfälle. Tendenz steigend. Die NFL-Saison soll dennoch wie gedacht beginnen, viele Teams planen sogar, ihre Stadien zumindest teilweise zu füllen.

Die Alltagssorgen vieler US-Bürger teilen Profisportler vermutlich nicht unbedingt, sie gehören zu den medizinisch am besten versorgten Menschen im Land. Vielleicht stehen ihre Befinden in der Corona-Krise deswegen eher selten im Mittelpunkt. Oft geht es ja darum, eine ganze Sportart vor dem Kollaps zur retten - was durchaus im Eigeninteresse der Athleten ist. Wenn die Show weitergeht, fließt auch weiter Geld auf ihr Konto. Aber in manchen Fällen geht es eben um mehr als Geld. Duvernay-Tardif jedenfalls verzichtet auf eine Menge davon. Eigentlich hätte er in dieser Saison 2,75 Millionen verdient, nun sind es noch 150 000 Dollar. Bei ihm hat das medizinische Pflichtbewusstsein die finanziellen Anreize verdrängt.

Auch Familie und Partner können ein gewichtiges Argument sein. Das zeigt der Blick auf die Fußball-Bundesliga. Als es dort wieder hatte losgehen sollen, äußerte der Kölner Spieler Birger Verstraete sich in einem Interview mit dem belgischen TV-Sender VTM News besorgt, weil seine Freundin wegen einer Vorerkrankung zur Risikogruppe gehöre. "Wenn jeder Spieler anonym entscheiden könnte - ohne, dass der Verein dir etwas übel nehmen könnte - wäre ich sehr gespannt, wie das Stimmungsbild aussehen würde", sagte er damals. "Alle sagen das Gleiche: Die Gesundheit der Familie steht an erster Stelle." Seine Freundin zog dann vorsichtshalber nach Belgien. Verstraete, der auch vorwurfsvollere Aussagen getätigt hatte, ruderte nach einem Gespräch mit den Kölner Vereinsverantwortlichen zurück.

Ob in der NFL weitere Spieler dem Beispiel von Duvernay-Tardif aus welchen Gründen auch immer folgen, ist noch nicht abzusehen. Die Liga und die im US-Sport traditionell mächtige Spielergewerkschaft haben sich erst an diesem Freitag auf Maßnahmen geeinigt, in denen ein Spielbetrieb unter dem Joch von Corona möglich sein soll. Daran ist etwa geregelt, dass es im Falle eines Saisonabbruchs keine weiteren Gehalts- oder Bonuszahlungen gibt, wann und wie viel trainiert werden darf und eben auch, dass ein Spieler nicht mitmachen muss.

Am vergangenen Sonntag noch hatten sich mehrere NFL-Größen wie Patrick Mahomes, Drew Brees, Russell Wilson und J.J. Watt auf ihren sozialen Kanälen besorgt gezeigt, wie die NFL mit der Sicherheit der Spieler umgeht. Tom Brady, der sich zu diesem Thema zuvor auffällig schweigsam gegeben hatte, stieg erst am vergangenen Donnerstag mit ein. Es gebe "mehr Fragen als Antworten", aber man müsse der Gewerkschaft vertrauen. "Wir müssen zusammenhalten und notwendige Antworten von der NFL als Partner fordern. Wir sind alle im selben Boot." Laurent Duvernay-Tardif hat sich schnell entschieden, nicht Teil dieser Crew zu sein.

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