Süddeutsche Zeitung

Nations League:Per Achterbahn nach Katar

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Erst 2:0, dann 2:3, dann 3:3: Die deutsche Nationalmannschaft hinterlässt im vorletzten Spiel vor der WM einen rätselhaften Eindruck. Nach einer wilden zweiten Halbzeit gegen England scheint aus dem Sturm- ein Abwehrproblem geworden zu sein.

Von Christof Kneer

Nein, es war keine Strafe für Thomas Müller. Der Trainer Hansi Flick ist kein nachtragender Mensch, und schon gar nicht fällt es ihm ein, stellvertretend für seinen Vorgänger übel zu nehmen. Allerdings ist es ja so: Hätte Thomas Müller jene große Chance verwertet, die er vor über einem Jahr an selber Stelle hatte - wer weiß, ob Jogi Löw dann vielleicht noch im Amt wäre? Als die deutsche Nationalelf letztmals im Londoner Wembleystadion vorbeischaute, verlor sie nicht nur 0:2, es endete auch ein Ära. Das Achtelfinale der vergangenen EM wurde zu Löws letztem Spiel als Bundestrainer, er machte Platz für Flick und dessen Neuanfang.

Neuanfang? Genau darum ging es nun ein gutes Jahr später, im abschließenden Spiel dieses Nations-League-Wettbewerbs in England. Einen möglichen Gruppensieg hatten beide Teams schon vor dieser Partie verpasst, es ging also um eher weiche Faktoren, die sieben Wochen vor einem WM-Turnier allerdings schon ziemlich hart sind. Flicks Deutsche starteten ja mit einer interpretationsfähigen Bilanz in diese Partie: Einerseits hatten sie bis dahin nur einmal in 14 Flick-Spielen verloren (gut), andererseits konnten sie von den letzten sechs Spielen nur eines gewinnen (nicht so gut).

Der Abend in Wembley wurde dann so turbulent, dass er die Interpreten eine Weile beschäftigen wird: Einer diskreten ersten Hälfte folgten erst eine deutsche 2:0-Führung und dann ein rätselhafter Systemabsturz, der die Engländer vorübergehend 3:2 in Führung brachte. Dann traf Havertz zum 3:3-Endstand - ein Unentschieden, das extrem unentschiedene Beobachter zurückließ, weil man nun kurz vor der WM das Gefühl hat, weniger über diese DFB-Elf zu wissen als je zuvor.

Der Bundestrainer jedenfalls beschloss, einigermaßen heiter zu bleiben, ihm bleibt ja auch nichts anderes übrig: "Dass wir eine Führung durch individuelle Fehler hergeben, darf natürlich nicht passieren", sagte Flick, "aber wir sind wieder zurückgekommen, das ist das Positive. Und ich habe heute auch viele positive Dinge gesehen."

Nach dem ernüchternden 0:1 gegen Ungarn hatte sich Flick für vier Änderungen in seiner Startelf entschieden. Müller blieb ebenso draußen wie Timo Werner, auch Serge Gnabry bekam diesmal nur einen Sitzplatz zugeteilt. Während sich in allen drei Fällen genüsslich über die Gründe diskutieren ließ (planmäßige Rotation oder Folge schwacher Leistung?), fehlte Antonio Rüdiger wegen einer Gelbsperre. Ihn ersetzte der Dortmunder Nico Schlotterbeck, der aufgrund seines Alters (23) in den Achtzigerjahren keineswegs auf der Welt gewesen sein kann, aber vielleicht ein paar Videos von Karlheinz Förster gesehen hat. Jedenfalls startete er so in die Partie, wie man in den Achtzigern in Partien gestartet ist: Nach einer Minute grätschte er erst mal Harry Kane um, den besten Stürmer des Gegners. Respekt verschaffen, so nannte man das früher, und hiermit gab die DFB-Elf also eine Richtung vor, der sie anfangs aber nicht ganz folgen konnte.

Der Bundestrainer hatte aus guten Gründen darauf verzichtet, diese Partie als ein Stimmungs-Endspiel auszurufen, aber im Grunde war es genau das. Die Nationalspieler werden sich erst am 14. November wieder treffen, es geht dann für vier Tage in den Oman, ein Spielchen machen sie dort noch gegen den Gastgeber, bevor es nach Katar geht. Dieses Szenario machte die Partie in London viel größer, als sie es nach der Logik der Nations League gewesen wäre: Es war schon vor dem Spiel klar, dass die Deutschen den Eindruck, den sie in Wembley hinterlassen, mit nach Arabien nehmen würden. Noch etwas größer wurde der Druck, weil Flick seine Spieler nach dem Ungarn-Spiel in Schutz genommen und die Niederlage auf seine Kappe genommen hatte. Dafür erwartete er nun ein gewisses Entgegenkommen - wie würde das aussehen, wenn er sich für sie in die Bresche wirft und sie ihn hängen lassen?

Wieder wurde deutlich: Vorne fehlt der Zielspieler, der den Angriffen eine klare Richtung gibt

Zumindest war nach Schlotterbecks Statement-Grätsche der Wille der DFB-Elf erkennbar, sie liefen die Engländer früh an, auch die ins Team rotierten Jamal Musiala und Kai Havertz gaben sich Mühe, ihre Nominierung zu rechtfertigen. Allerdings wurde auch der Unterschied zwischen gut gemeint und gut gemacht offensichtlich, was den Engländern nicht entging. Sie nahmen Deutschlands Überlegenheit im Ballbesitz mit zunehmender Gelassenheit zur Kenntnis und sandten einige scharfe Konter durchs offene Zentrum. Marc-André ter Stegen parierte zweimal ausgezeichnet gegen Raheem Sterling (25., 44.). So wurden in der ersten Hälfte gleich zwei strukturellen Probleme der DFB-Elf sichtbar: Vorne fehlt der Zielspieler, der den Angriffen eine Richtung gibt; und im defensiven Mittelfeldzentrum wirkt Joshua Kimmich mitunter alleine, was gegnerische Teams als Einladung zum Konter verstehen. An diesem Abend in Wembley zeigte sich exemplarisch, wie diese beiden Probleme zusammenhängen: In Ermangelung eines Mittelstürmers verlieren sich die Deutschen manchmal in ziellosen Kombinationen, und wenn sie dann noch den Ball verlieren, saust der Gegenangriff durchs unzureichend besetzte Zentrum.

Diese Themen waren allerdings bekannt, erstaunlicher war, was für eine irre zweite Halbzeit sich dann entwickelte. Dank des umstrittenen englischen Verteidigers Harry Maguire schien die deutsche Elf sich und ihrem Trainer zunächst doch noch einen guten Abend zu besorgen: Nach plumpem Foul an Musiala verwandelte Ilkay Gündogan erst den fälligen Elfmeter (53.), kurz darauf schloss Havertz nach Maguires Ballverlust einen Konter zum 2:0 ab (67.). Was dann passierte, dürfte die DFB-Delegation bis in den Oman verfolgen: Innerhalb von elf Minuten drehten die Engländer das Spiel. Erst wurde Luke Shaw im Rückraum übersehen (72.), anschließend störte niemand Bukayo Saka bei seiner Vorlage auf Mason Mount (75.), dann foulte Schlotterbeck den BVB-Kollegen Jude Bellingham, was Kane ein Elfmetertor bescherte (82.). Und als die bis dahin eher ordentlichen Kritiken fürs DFB-Team gerade in seriöse Verrisse umgedichtet wurden, erzielte Havertz den Ausgleich (87.) - nachdem Keeper Nick Pope einen Schuss des eingewechselten Serge Gnabry netterweise vor Havertz' Füße gepatscht hatte.

Was diese Achterbahn-Hälfte nun für die WM besagt? Auf jeden Fall eines: dass aus dem deutschen Sturm- plötzlich ein deutsches Abwehrproblem geworden ist.

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