Süddeutsche Zeitung

Mesut Özil bei Fenerbahçe Istanbul:"Das Gesicht der ganzen Türkei"

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Selbst für Türken, die keine Fenerbahçe-Fans sind, ist der Wechsel von Mesut Özil ein Lichtblick. Die führenden Zeitungskolumnisten schreiben begeistert von dessen Heimkehr.

Von Tomas Avenarius, Istanbul

Viel zu lachen haben die Türken derzeit nicht. Gut, der Staatschef lässt sich einen sündteuren Sommerpalast bauen, aber der ist ja wieder nur für ihn. Für die meisten anderen bleibt die Lage miserabel. Die Preise steigen, Firmen gehen pleite, Jobs verloren. Wegen Corona bleiben die Touristen weg. Und an den Wochenenden herrscht für diejenigen, die sonst Entspannung im Freien finden, ein kompletter Lockdown: Ein Volk, das seine Freizeit in Teegärten, Restaurants, Bars oder im Park, auf der Straße und am Strand verbringt, findet das nicht erheiternd.

Da ist die Ankunft von Mesut Özil ein Lichtblick. Selbst wenn einer kein Fan von seinem neuen Verein Fenerbahçe ist und Präsident Erdoğan auch nicht ganz so überschwänglich verehrt wie der deutsch-türkische Fußballer das offenbar tut: Der hatte den Staatschef ja sogar als Trauzeugen gewonnen. Durchschnittsdeutsche Fans fanden das befremdlich, in der Türkei war es bei vielen Anlass für Jubel, ebenso wie nun Özils Transfer-Entscheidung. Dennoch gab es bei der Ankunft aus London am Istanbuler Flughafen keinen Massenauflauf, kein jubelndes Empfangskomitee und keinen Autokorso, der sonst zum Standardprogramm jeder Dorfhochzeit zählt: In Corona-Zeiten bleiben eben auch die großen Momente mau.

Die türkischen Zeitungen, deren Kolumnisten gern das nationalistische Wort führen, schrieben dennoch begeistert über die Heimkehr Özils, der in Deutschland geboren und aufgewachsen ist und von sich sagt: "Ich denke wie ein Deutscher und fühle wie ein Türke." Da die Türken die Deutschen eigentlich schätzen, ist Ersteres schon mal ganz gut. Aber wie ein Türke zu fühlen, das ist wohl für jeden anderen Türken die oberste Daseinsform. Und damit: großartig.

Fenerbahçe ist der populärste Klub des Landes - nicht nur Atatürk war Fan, auch Erdoğan ist es

Und Fenerbahçe ist trotz fehlender sportlicher Erfolge landesweit noch immer der populärste Klub. Staatsgründer Atatürk war ein Fan. Der heutige Präsident ist es auch. Und gekauft hat den Verein in Ali Koç einer der reichsten Männer des Landes, der es sich als Mitglied des türkischen Industrie-Hochadels erlauben kann, sein Kleingeld mit dem Traditionsverein zu verlieren. Die Zeitung Milliyet träumt schon davon, dass Fenerbahçe nun zu einer Art "Made in Turkey-Marke" wird: "Özil wird für die Welt das Gesicht Fenerbahçes sein - und damit der ganzen Türkei."

Aber Özil trifft auch einen anderen Nerv, bei einem Teil der nationalen Klientel: Er spricht in letzter Zeit gern mit religiösem Unterton, macht sich etwa auch für unterdrückte muslimische Völkerschaften wie die Uiguren stark. In einem Land, das seit fast 20 Jahren von einem islamisch orientierten Politiker geführt wird, passt das schon.

Einen anderen, fast demütigen Blick fand der Autor der Regierungsnahen Zeitung Milat, der Özils Fußballbuch "Die Magie des Spiels" offenbar wie ein Erweckungserlebnis gelesen hat: Der Fußballer stamme als Gastarbeiterkind aus dem Teil der Türkei, den viele Türken nicht verstehen: aus Deutschland. Man habe Özil in der Türkei übel kritisiert, weil er früher für die deutsche und nicht für die türkische Nationalmannschaft gespielt habe. Dabei habe er dort gelernt, was er nun in die eigentliche Heimat mitbringe: Fußballverstand auf höchstem Niveau für einen Klub, der genau das brauchen könne.

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