Süddeutsche Zeitung

Lionel Messi:Der Traum vom ersten Titel

Lesezeit: 4 min

Von Javier Cáceres, São Paulo

Bei der Weltmeisterschaft in Russland 2018 kamen sich Lionel Messi und ein Mitglied des argentinischen Trainerstabes näher. Bei einem Geheimtraining hatte der damalige Nationalcoach Jorge Sampaoli Eckbälle aufs Programm gesetzt und angeordnet, dass die Bälle exakt zum Elfmeterpunkt fliegen sollen. Messi, der den Ball mit dem Fuß präziser fortbewegen kann, als es mancher Profi mit der Hand vermag, erlaubte sich einen Jux: Mal schoss er den Ball zu tief, mal zu hoch, dann wieder an den Strafraumrand.

Bis Sampaoli zum Elfmeterpunkt lief, die Arme hochriss und schrie: "Hierher, Lio! Hier soll der Ball hin!" Doch Messi schoss die Bälle weiter ins Irgendwo.

Dann lief Sampaolis Assistent zur Eckfahne und meinte helfen zu können. " So musst du gegen den Ball treten, Lio! So!" "Alle mal herhören!!!", rief Messi: "Der hier will mir sagen, wie ich gegen den Ball zu treten habe!" Schallendes Gelächter.

Bei dem hier handelte es sich um Lionel Scaloni, 41, ein früherer, eher grobschlächtiger Profi. Er ist heute Messis Cheftrainer in der argentinischen Nationalelf, die an diesem Samstag in Salvador, Brasilien, gegen Kolumbien ihre Jagd auf den Sieg bei der Copa América 2019 aufnimmt.

Für Messi ist es ein Turnier, in dem er unter Götterdämmerungsverdacht steht. In wenigen Tagen wird er 32 Jahre alt, und das heißt: Er dürfte vor einer der letzten Chancen stehen, einen weißen Fleck in seinem Curriculum zu beseitigen. "Ich will meine Karriere nicht beenden, ohne mit dem Nationalteam einen Titel errungen zu haben", sagte Messi vor Antritt der Expedition nach Brasilien. Es wäre ihm kein Trost, dass er in exquisiter Gesellschaft bliebe, wenn er bei seinem fünften Copa-América-Auftritt das Ziel verfehlen sollte.

Fundamentaler Unterschied zu allen vorherigen Turnieren

Unter den Fußballern, die das älteste Kontinentalturnier der Welt nie gewinnen konnten, sind auch Pelé und Diego Maradona. Brasiliens Legende und Argentiniens Mythos aber wurden - anders als Messi - beide Weltmeister: Pelé drei Mal (1958, 1962, 1970), Maradona ein Mal (1986). Messi hingegen hat nach seinen vier Finalteilnahmen immer nur Silber umgehängt bekommen: Bei der WM in Brasilien 2014, als Argentinien gegen Deutschland das Finale von Rio verlor (0:1), sowie bei den Copas von 2007 (gegen Brasilien) und dann 2015 und 2016, als sein Team jeweils gegen Chile unterlag. Nach der bis dato letzten Finalschlappe trat er zwischenzeitlich sogar zurück: "Das war's. Für mich ist die Nationalmannschaft vorbei", sagte er damals, zusammengebrochen unter der Last, ständig mit dem Mythos Maradona konkurrieren zu müssen.

Messi kehrte bekanntlich dann doch zurück. Und ist in Brasilien unter den 276 Profis der Fußballer mit den meisten Länderspieleinsätzen (130). Vor Diego Godín (Uruguay, 127) und Gary Medel (Chile, 118).

Seit Brasilien seinen Stürmer Neymar Júnior verletzt aufgeben musste, träumen sie in Argentinien wieder davon, den ersten internationalen Titel seit der Copa América von 1993 zu holen. Sie bauen darauf, dass es einen fundamentalen Unterschied zu allen vorherigen Messi-Turnieren gibt: Bislang fühlte sich der fünfmalige Weltfußballer oft gezwungen, grandiose, meist titelreiche Saisons mit dem FC Barcelona bestätigen zu müssen. Diesmal ist es umgekehrt: Für Frust sorgte Barça. Sie wurden zwar spanischer Meister. Die ersehnte Champions-League-Trophäe warf seine Mannschaft beim 0:4 (nach dem 3:0-Sieg im Hinspiel) gegen den späteren Sieger FC Liverpool spektakulär in den Müll. Im spanischen Pokal setzte es überdies eine peinliche Finalniederlage gegen den FC Valencia. Den Ärger in Hunger umzuwandeln, das ist Messis Plan. Zumal er mit ausgeruhten Beinen antritt.

"Ich glaube, dies war die Saison, in der ich die wenigsten Minuten gespielt habe", sagte er. In der Tat: Er kam auf 4159 Pflichtspielminuten und damit auf einen Wert, der weit unter der Spitzenmarke von 2012 liegt (5940 Minuten). Nimmt man die vergangenen zehn Jahre, hatte er nur vor der WM 2014 weniger Einsatzzeit (4074). Damals plagten ihn oft Muskelverletzungen. Diesmal setzte er sich bei Barça häufig auf die Bank, um Kräfte fürs Saisonende zu schonen. Und zu Einsätzen für die Nationalelf kam es kaum. Nach dem Ärger über die Russland-WM 2018, wo Argentinien im Achtelfinale gegen Weltmeister Frankreich ausschied, legte Messi ein Sabbatical ein; er schmollte. Erst im März kam er zurück. Augenscheinlich entspannt.

Jene, die Messi dieser Tage im Mannschaftshotel in Salvador sahen, berichten von einem gut gelaunten Kapitän, der in der Lobby mit den Kollegen Karten spielt. Er selbst bediente dieser Tage die Außenwelt mit einem Selfie, das seinen Zimmergenossen Sergio "Kun" Agüero beim Nickerchen zeigte - und Messi lächelnd, eine Kalabasse mit Mate in der Hand. Eine Albernheit? Ja. Aber in Messis Vita unerhört.

Schon zuvor hatte er sich ungewohnt offen gezeigt. Siesta? Fehlanzeige, mit drei Kindern sei das unmöglich. Und er erzählte, dass ihn sein zweitältester Sohn Mateo wegen des traumatischen 0:4 von Liverpool aufziehe: "Mateo guckt mich an und fordert mich heraus ... Mit einem Hurensohn-Gesicht ...!", entfuhr es Messi.

"Wenn Leo das macht, was er jeden Sonntag macht, wird's schon laufen"

Aus seinem Umfeld ist zu hören, dass Messi nicht mehr die Beklemmungen von einst spüre. Das Gefühl, um jeden Preis siegen zu müssen, sei weg. Das Team müsse nach hinten funktionieren, vorne würden er und sein Freund Agüero schon einen versenken, habe er gesagt. Messi kam in der letzten Saison auf 53, Agüero auf 33 Tore.

Trainer Scaloni scheint überdies ein Ambiente geschaffen zu haben, in dem Messi aufblüht. Er vermisst zwar ein paar der alten Gefährten wie Mascherano, Higuaín, Romero oder Banega. Aber er fühlt sich im Kreise jüngerer Talente wie Saravia oder Pezzella offenkundig wohl. Vor allem mit Giovani Lo Celso, dem Mittelfeldspieler von Betis Sevilla, harmoniert er prächtig. "Argentinien durchlebt einen Generationswechsel. Für die meisten Spieler ist es das erste offizielle Turnier. Wir sind deshalb anders als sonst auch nicht Favorit. Aber wir wollen diese Copa", sagte Messi.

Genau darauf baut Trainer Scaloni: "Wenn wir als Team funktionieren und Leo das macht, was er jeden Sonntag macht, wird's schon laufen", sagte er. Es klang, als paraphrasiere er den früheren argentinischen Weltmeister Jorge Valdano, der einmal sagte, dass Messi an jedem Sonntag Maradona sei.

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SZ vom 15.06.2019
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