Süddeutsche Zeitung

Leichtathletik:Ungebrochenes Tempo

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Asafa Powell reiht sich mit seinen 9,84 Sekunden über 100 Meter in die Reihe der Sprinter ein, die nach einer Doping-Sperre aufblühen.

Von Thomas Hahn, Kingston

Diese Aufregung, die um sich gegriffen hat im Nationalstadion von Kingston, ist kaum noch einzufangen, und plötzlich ist es so, als handle es sich bei diesem internationalen Leichtathletik-Meeting in Jamaikas Hauptstadt um eine wirklich wichtige Angelegenheit. Die Menge will nicht still werden, sie trötet und tönt und schreit. Drei, vier, fünf Mal sagt der Stadionsprecher, dass jetzt mal Ruhe herrschen müsse vor dem Startschuss des 100-Meter-Laufs. Aber die Menge beruhigt sich nur langsam. Sie ist voll mit Liebe und Zorn, weil unten, auf der Bahn, Asafa Powell steht, Kingstons heimgekehrter Sohn, und daneben der Amerikaner Ryan Bailey, der eine Woche zuvor den Sieg der US-Staffel über Jamaika beim Staffel-Weltcup in Nassau ins Ziel gebracht hat.

Pssst, pssst. Endlich wird es leiser. Die Menschen haben sich erhoben wie beim Gebet in der Kirche. Dann rennen die Männer los, wieder brüllt die Menge wie ein wildes Tier, und brüllt noch mehr, als Powell mit festen Schritten vor Bailey ins Ziel eilt. 9,84 zu 9,93 Sekunden. Jamaikas Welt ist schön und Powell der Held der Nacht.

Die Jamaikaner hängen an den Zügeln ihrer Gefühle, was im Alltag der vernachlässigten, leicht chaotischen Hauptstadt Kingston nicht immer gut ausgeht. Aber bei einem Sportfest entsteht daraus eine flirrende Atmosphäre, die sich gerade ein Profi aus der eher reservierten US-Leichtathletik häufiger wünscht. Ryan Bailey ist jedenfalls ganz begeistert gewesen von der Hingabe, mit welcher die Jamaikaner ihn ausbuhten. Er lächelte, er heizte mit Gesten die Stimmung an. Später sagte er: "Das hat Spaß gemacht." Und seine Niederlage konnte er leicht nehmen, weil er ja eine Woche zuvor seinen Beitrag zu einem viel wichtigeren Sieg geleistet hatte.

In der Sprintszene scheinen sich die Kräfteverhältnisse gerade wieder ein bisschen zu verschieben. Seit 2008 hat Jamaika fast nach Belieben dominiert, vor allem dank Usain Bolt, dem Olympiasieger, Weltmeister und Weltrekordler, der in Kingston nicht am Start war, um sich zu schonen. Die stolze Sprintnation USA sah wie ein Zwerg aus neben der kleinen karibischen Insel. Aber der Riese erhebt sich wieder: Der Sieg der 4x100-Meter-Staffel auf den Bahamas mit Mike Rodgers, Justin Gatlin, Tyson Gay und Ryan Bailey über Jamaika war deutlich. Nicht einmal Bolt als Schlussläufer konnte sie abwenden.

Das hat Jamaika weh getan, das hat man spüren können in Kingston. In ihrer Ansprache vor dem Meeting rief Sportministerin Natalie Neita Headley trotzig: "Wir sind und wir bleiben die Sprinthauptstadt der Welt." Die Buhs gegen Bailey kamen von Herzen, weil der nach dem US-Sieg Bolts Sterndeutergeste gezeigt und dann den Zeigefinger um den Hals geführt hatte; Bailey nannte die Meuchel-Pantomime "ein Missverständnis", es half nichts. Und der Jubel um Powell war wohl auch deshalb so groß, weil dessen Sieg bei straffem Rückenwind als Zeichen für Jamaikas ungebrochenes Tempo gelten konnte.

Asafa Powell fühlt sich gerade sehr gut. Er glaubt: "Meine beste Zeit kommt noch."

Ob das was Gutes für die Sprintszene verheißt, ist allerdings eine andere Frage. Irgendwie schafft sie es nicht, sich zu erneuern. Die alten Hasen sind nicht wegzukriegen, Powell, 32, ergänzt die Reihe der Ü30-Athleten, die nach Doping-Sperren ihren zweiten Frühling erleben. Für die USA stürmt Justin Gatlin, 33, Olympiasieger von 2004, längst wieder die Siegerpodeste, seit 2010 seine Vierjahressperre wegen Testosteron-Missbrauchs ausgelaufen ist. Für Tyson Gay, 32, den Dreifach-Weltmeister von 2007, bedeutete der Staffel-Sieg in Nassau das erste Gold nach seiner Ein-Jahres-Sperre wegen Steroid-Dopings. Und nun ist also auch Powell wieder zurück, der im Sommer 2013 auf das Stimulanzmittel Oxilofrin positiv getestet worden war.

Stephen Francis, seinerzeit Powells Coach in Kingston, war damals ziemlich sauer: Powell schlage sich zunehmend auf die Seite seines amerikanischen Managers Paul Doyle und komme deshalb mit falschen Leuten in Kontakt. Genauer gesagt mit dem kanadischen Physiotherapeuten Chris Xuereb, der mal ein Mitarbeiter in der Klinik des verurteilten Dopingmittel-Schmugglers Anthony Galea war und Powell ein verseuchtes Nahrungsergänzungsmittel gegeben haben soll (was Xuereb bestreitet). Mittlerweile hat Doyle verkündet, seine Agentur verklage den Hersteller des Mittels. Die ganze Geschichte ist verworren, vorerst ist nur klar, dass Francis Powell aus seiner Trainingsgruppe komplimentiert hat, weil der sich nicht von Doyle trennen wollte. Dass Powells Sperre am Ende sechs Monate betrug. Und dass Powell jetzt in Austin/Texas bei seinem Bruder Donovan, 43, trainiert, der selbst Sprinter war und wegen eines Ephedrin-Tests eine Drei-Monats-Sperre absaß.

Asafa Powell lächelte, als die Landsleute ihn mit ihrer Zuneigung überschütteten. Er wirkte schlanker als früher, und er trug trotz der Schwüle einen langen Rennanzug. Seinen Sieg nahm er mit großer Ruhe auf, routiniert gab er seine Statements, ehe er zur Siegerehrung eilte und in der Nacht verschwand. Er fühlt sich gerade sehr gut, er sagt: "Meine beste Zeit kommt noch." Es erscheint fast so, als habe ihm die Doping-Affäre gut getan.

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Quelle:
SZ vom 11.05.2015
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