Süddeutsche Zeitung

Leichtathletik:Umbuchung eines Reiseziels

Lesezeit: 4 min

Gerade war Zehnkämpfer Felix Wolter auf dem Weg an die Spitze, da ereilte ihn eine Verletzung, die ihn ein Jahr seiner Karriere kosten wird. Statt auf Tokio arbeitet er nun auf München hin.

Von Andreas Liebmann, Gräfelfing

Es musste wohl einfach mal raus. Zwei Bahnen war Felix Wolter noch gelaufen, als wäre nichts gewesen, der Beginn seines üblichen Aufwärmprogramms. Dann stoppte er. Setzte sich. Fing an zu weinen. Die Nachricht sickerte unaufhaltsam in sein Bewusstsein.

Seit der Zehnkämpfer nach Pittsburgh im US-Bundesstaat Pennsylvania gezogen ist, lief nicht unbedingt alles perfekt, aber zuletzt hatte er beachtliche Leistungen gebracht. Plötzlich waren selbst die Olympischen Spiele in Tokio nicht unerreichbar, auf die der 23-Jährige noch Monate zuvor kaum ernsthaft hatte hoffen dürfen. Die Nachricht, die er nun aber vor dem Training bekam, änderte alles. Das ulnare Seitenband, kurz UCL, war gerissen, das hatte seine MRT-Untersuchung ergeben. Zehnkämpfer kennen diese seltene Verletzung des Ellenbogens, spätestens durch Niklas Kaul. Der Weltmeister von 2019 hat nach einer solchen Blessur vor wenigen Wochen erst sein Comeback gefeiert - zehn Monate nach seiner Operation.

Das Kuriose im Fall von Felix Wolter ist, dass er die Verletzung schon hatte, als er seine neuen Bestmarken aufstellte, Mitte April in Charlottesville, Virginia. Nach dem 100-Meter-Sprint mit kleinem Stolperer gelang ihm dort sein bisher weitester Sprung, 7,61 Meter; dem trotz des schmerzenden Ellbogens ordentlichen Kugelstoßen folgte der erste Zwei-Meter-Hochsprung seiner Karriere. Und auch die 400-Meter-Zeit war nur um Hundertstelsekunden hinter seinem persönlichen Rekord. "Der erste Tag war ziemlich gut", fand er. Die Hoffnung auf seinen ersten 8000-Punkte-Wettkampf lebte.

"Ein schlechter Wurf tut immer weh" - aber diesmal war etwas anders

Aber natürlich waren da diese Schmerzen im Arm, deretwegen er kaum noch mit Kugel, Diskus und Speer trainiert hatte. Drei Wochen zuvor hatte er bei seinem ersten Freiluft-Wettkampf der Saison diesen Stich gespürt. "Ich war nie der saubere Techniker im Speerwurf, und ein schlechter Wurf tut immer weh", sagt er am Telefon. Doch diesmal war es anders, der Schmerz heftiger: "Ich bin sicher, dass ich mir dabei das Band gerissen hab."

Zunächst war es schwer vorstellbar, weitere Zehnkämpfe anzugehen, doch bis Virginia fühlte sich alles wieder halbwegs ordentlich an, bis auf den Speerwurf - und er wollte sich schließlich für die US-Meisterschaften qualifizieren, die Nationals, ehe es im Sommer heimwärts gehen sollte, etwa zum Mehrkampfmeeting in Ratingen. Von der Art seiner Verletzung ahnte er noch nichts. Eine Zerrung vielleicht.

Im vergangenen August begann Felix Wolter sein Masters-Studium der Informatik, er hatte ein Stipendium bekommen und Lust gehabt, "etwas Neues zu entdecken". Beinahe hätte der damalige US-Präsident Donald Trump alles verhindert, als er versuchte, ausländische Studenten von den Unis fernzuhalten; doch als dieses Thema vom Tisch war, packte Wolter seine Koffer und landete in Pittsburgh, einer Studentenstadt, die von der Corona-Krise nicht so arg betroffen war wie die Metropolen New York oder Los Angeles; die mehr Brücken besitzt als Venedig, 446, weil sie an den Ufern des Monongahela Rivers und des Allegheny Rivers liegt, die sich dort zum Ohio River vereinen. Von Pittsburgh kennt Felix Wolter überwiegend das Uni-Viertel: "Downtown bin ich nicht so oft, nur, wenn ich mal mit dem Fahrrad durchfahre."

Ihm gefällt das neue Leben. Eine Sportler-WG, in der schon mal alle vor einem Podcast über Leichtathletik-News oder Krafttraining sitzen, weil alle dieselbe Leidenschaft teilen - und in der es sich bezahlt macht, dass Felix Wolter gerne kocht. "Ich bin kein komplizierter Mensch und brauche nicht viel, um glücklich zu sein", sagt er. "Sport natürlich." Den braucht er.

Dass es im Sport nun so gut lief, hat auch damit zu tun, dass er in Pittsburgh nur fünf Minuten braucht zwischen Uni, Wohnung und Trainingsstätten - statt jeweils eine Stunde wie bisher in München. Und natürlich habe er auch neuen Input bekommen, kleine Details manchmal nur, die aber halfen. "Er ist schon richtig gut geworden", stellt Matthias Schimmelpfennig fest, der Landesstützpunkttrainer für Stabhochsprung und Mehrkampf, der ihn in Gräfelfing trainiert: "Viele hat er in Deutschland nicht mehr vor sich."

"Alle sagen, krass, wie du dich verbessert hast, aber es waren ja auch die ersten Wettkämpfe seit langem."

Dabei war der Anfang zäh in den USA. Schon während des ersten Lockdowns in Bayern hatte sich Wolter einen Stressbruch im Sprunggelenk zugezogen, vermeintlich lange überwunden, als er in die USA zog: "Ich war gut drauf." Doch nach der Quarantäne bekam er Schmerzen, der Bruch war nicht verheilt: "Ich bin ewig damit rumgezogen." Der Fuß gab keine Ruhe, wurde schließlich ruhiggestellt, erst kurz vor Weihnachten konnte Wolter voll ins Training einsteigen. Bei den nationalen College-Hallenmeisterschaften im März steigerte er seine Siebenkampfleistung auf 5907 Punkte. Ein Jahr zuvor war er Zweiter der deutschen Hallenmeisterschaften gewesen, mit 5550 Punkten. "Alle sagen, krass, wie du dich verbessert hast", erzählt Wolter, "aber es waren ja auch die ersten Wettkämpfe seit langem."

Tag zwei in Charlottesville, Virginia, begann dann mit einer neuen Bestleistung über 110 Meter Hürden, danach auch im Diskuswurf, trotz des Handicaps. Und der Stabhochsprung, nun ja: Das ist sein Pflichtprogramm. Felix Wolter, der über den TSV 1860 München und die LG Stadtwerke als Teenager zum TSV Gräfelfing kam, war dort bis vor wenigen Jahren Stabhochspringer. 4,85 Meter, eine gewohnt solide Leistung.

Hätte er mit seiner Verletzung vernünftig Speerwerfen können, er hätte den ersten 8000er bezwungen, weder er, noch Schimmelpfennig zweifeln daran. Doch jeder Versuch "tat höllisch weh". Einige Meter fehlten, da half es auch nicht, dass er im abschließenden 1500-Meter-Lauf eine weitere Bestmarke aufstellte. 7950 Punkte standen auf der Tafel. 8350, das nur nebenbei, ist die Qualifikationsnorm für Tokio.

400 Punkte mehr hätte er gebraucht für Tokio - schwierig, aber machbar

Diese hatte Wolter, der sich selbst einen großen Planer nennt, durchaus im Blick. Der Hintergrundbildschirm seines Handys listet alle Zielmarken auf, die er zum Erreichen der Norm benötigt hätte. "Klar war das im Hinterkopf", gibt er zu. 400 Punkte mehr, 40 pro Disziplin - schwer, aber machbar, glaubt er, zumindest mit intaktem Arm. Mit dem Diskus zum Beispiel müsste er sich nur um zwei Meter steigern.

Nach der Diagnose und dem kleinen "Zusammenbruch", wie er es nannte, fing Felix Wolter wieder zu planen an: Fünf, sechs Monate, bis er nach einer OP weitspringen und hürdenlaufen kann; bis zu zwölf, ehe er beim Werfen voll belasten darf. Er hat alles durchgespielt, überlegt sogar, Würfe mit links zu trainieren für erste Wettkämpfe zum Wiedereinstieg. Vielleicht, sagt er, hätte er die 8000 Punkte und die Nationals sogar trotz der Verletzung noch erreichen können, doch seine Rechnung ergab, dass er so schnell wie möglich unters Messer müsste. Vor einigen Tagen hat er die OP hinter sich gebracht. Nur so könnte es nämlich klappen mit seinem neuen Ziel: Am 11. August 2022 beginnen in München die European Championships. Er hat sich nicht lange mit seinem Frust aufgehalten.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5307400
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.