Süddeutsche Zeitung

Klettern:Die puristischste Form der Achtsamkeit

Lesezeit: 3 min

Nach einer langen Sinnkrise hat Leadkletterer Sebastian Halenke in dieser Saison zu alter Stärke zurückgefunden. Bei der deutschen Meisterschaft in Augsburg hofft er auf einen erfolgreichen Abschluss.

Von Nadine Regel

Noch in der ersten Jahreshälfte hat es für Sebastian Halenke schlecht ausgesehen. Eine chronische Schulterverletzung machte ihm zu schaffen. "Ich hätte nicht gedacht, dass ich überhaupt in dieser Saison an den Start gehen kann", sagt der 26-jährige Lead-Spezialist. Am Samstag feiert er nun den Saisonabschluss in Augsburg. Bei der deutschen Meisterschaft im Lead-Klettern, also dem Vorstiegs-Klettern am Seil, misst sich Halenke mit 43 anderen Athleten in seiner liebsten Disziplin. Nach zwei Jahren Pandemie-Pause findet der Wettkampf nun auch wieder vor Publikum statt. Halenke freut sich: "Das macht für das Wettkampffeeling einen riesen Unterschied - das intensiviert den Moment", sagt er.

Intensive Momente ­- die gab es für Sebastian Halenke in den vergangenen Jahren viele. 2015 und 2016 feierte der Lead-Spezialist mit einem ersten Platz beim Weltcup im slowenischen Kranj und einigen Top-Ten-Platzierungen seine ersten großen internationalen Erfolge. Die Saison 2017 lief dann nicht gut für Halenke, weil sich der Routenstil drastisch geändert hatte. Er brach die Saison gar vorzeitig ab. "Mental ist da für mich alles wie ein Kartenhaus zusammengebrochen", sagt Halenke. In den Folgejahren reihten sich Pech- und Verletzungsphasen aneinander. Halenke nennt diese Jahre eine "Zeit mit Tiefen und Tiefen". Aber Aufgeben war nie eine Option für ihn.

Er hatte sich für den Weg des Profikletterers entschieden, und mit "absoluter Willenskraft" wollte er diesen Weg weitergehen. "Resultattechnisch stehe ich wieder da, wo ich 2016 war, aber mental bin ich viel gefestigter als damals", sagt Halenke. Das sagt einer, der es schon in seiner Schulzeit nicht leicht hatte. Er wurde gemobbt. In der fünften Klasse entschied er: "Ich will einen Irokesenschnitt", um seinem gefühlten Anderssein auch nach außen hin Ausdruck zu verleihen. Seither trägt er seinen Rebellen-Kamm, aktuell in rot, obwohl er sich selbst als einfühlsamen Menschen bezeichnet. Nur ein "normales Leben", das will er nicht.

Mittlerweile schafft er es, "mir selbst nicht im Weg zu stehen, wenn es drauf ankommt"

Das sein Streben sich ausgezahlt hat, zeigt diese Saison. Wieder in Kranj kletterte er mit einem dritten Platz aufs Weltcup-Podium, zudem erreichte er im schweizerischen Villars den vierten und bei der WM in Moskau den sechsten Platz. Am Wochenende beweist er sich nun auf nationaler Bühne. Die Kletterhalle Augsburg ist gleichzeitig das Landesleistungszentrum Bayern und hat daher für den Sport im Freistaat eine wichtige Funktion. Auch Halenke kommt für Trainings ab und zu nach Bayern, obwohl er in Lahr in Baden-Württemberg lebt und für die DAV-Sektion Schwäbisch Gmünd startet. "Meine Haupttrainingsstätte ist meine Trainingswand in der Garage", sagt Halenke. Zudem reist er viel durch Mitteleuropa, um in verschiedenen Hallen und an Felswänden zu trainieren. "Heute bin ich zu 95 Prozent allein unterwegs", sagt Halenke, der keine Geschwister hat.

Früher begleitete ihn sein Vater, der auch aus dem Leistungssport kommt. Er war Mittelstreckenläufer in der ehemaligen DDR. Halenkes Eltern stammen aus Thüringen und sind Anfang der Neunziger Jahre nach Heidenheim gezogen. Sein Vater war es auch, der Halenke mit acht Jahren zum Klettern gebracht hat. Über das Bergwandern kam das Interesse an diesem Sport. Mit Hilfe eines Lehrbuches eignete sich die kleine Familie das Klettern an. "Ich war also nie in einem Kletterkurs", sagt Halenke. Mit zwölf Jahren startete er in der B-Jugend und gewann die Gesamtsaison. Über den Landeskader nahm er zwei Jahre später an internationalen Wettkämpfen teil. Aktuell absolviert Halenke ein Bundesfreiwilligenjahr im Spitzensport am Olympiastützpunkt in Freiburg.

Was ihm in seiner schwierigen Phase geholfen hat, ist neben der Willenskraft auch die Meditation. Etwas Meditatives findet er auch im Klettern, was auch für ihn die Faszination des Sportes ausmacht. "Das Klettern lässt keine Ablenkung zu, man ist so stark im Hier und Jetzt", sagt Halenke. Für ihn sei sein Sport die "puristischste Form der Achtsamkeit und die intensivste Weise, die Realität zu erfahren". Auf diese Weise habe er es in dieser Saison das erste Mal geschafft, "mir selbst nicht im Weg zu stehen, wenn es drauf ankommt", sagt Halenke. Das kann ihm nun auch zu einem erfolgreichen Saison-Abschluss in Augsburg verhelfen.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5427981
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.