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Italienische Nationalmannschaft:Retter des Urgroßvaterlandes?

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Die Krise der Europameister dauert an. Das 1:2 gegen England offenbart ein dramatisches Problem im Sturm - das wollen die Azzurri nun mit einem Schnellkurs für den unbekannten Neuner Mateo Retegui aus Argentinien beheben.

Von Oliver Meiler, Rom

Und tatsächlich: Mateo Retegui hat getroffen. Beim Debüt gegen England, mit allen Augen auf ihn gerichtet. Gebracht hat das nichts, es war nur ein Blitz in Neapels Nacht. Italien verlor das Topspiel zum Auftakt der Qualifikation für die Europameisterschaft 1:2 (0:2) - ziemlich verdient, muss man dazusagen. "Little Italy", titelte die Zeitung La Repubblica, eine Schlagzeile, die ihre schöne, doppeldeutige Wucht erst im Echo entfaltet. Doch woran sollen sich die Italiener schon aufrichten, wenn nicht an diesem jungen Mittelstürmer aus dem fernen Argentinien - "vom Ende der Welt", um einen anderen Argentinier zu paraphrasieren? So hatte sich Jorge Mario Bergoglio beim Kirchenvolk vorgestellt, damals, als er Papst Franziskus wurde.

Mateo Retegui, 23, von Boca Juniors, ausgeliehen an Tigre, ist nun also der neue Neuner der Azzurri. Der hoffnungsfrohe Retter des Vaterlandes. In seinem Fall ist es das Urgroßvaterland.

Angelo Di Marco aus dem sizilianischen Canicattì ist vor langer Zeit nach Argentinien ausgewandert, der Urenkel spricht kein Wort Italienisch. Es ist nicht einmal sicher, ob Retegui vor seiner Berufung in die italienische Nationalmannschaft jemals in Italien war. Aber so wichtig ist das nicht, er soll jetzt mal gefälligst die Verzweiflung der Italiener auf jener Position wegwischen, die früher immer mal gut besetzt war. Von Luca Toni etwa, von Christian Vieri, vom vermissten Gianluca Vialli, um nur drei aus der näheren Vergangenheit zu nennen.

Italien trifft nicht mehr, es ist ein Jammer. Und das liegt nicht nur an der Unpässlichkeit oder der Leistungsbaisse von Ciro Immobile, Andrea Belotti, Giacomo Raspadori und Gianluca Scamacca. Denn, nun ja, auch diese Reihe ist nicht gerade Gala. In Italien wachsen einfach keine großen Stürmer mehr nach. Die Vereine der Serie A holen lieber mittelmäßiges Personal und vergangene Glorien aus dem Ausland, als dass sie auf den eigenen Nachwuchs setzen. Das Problem ist erkannt. Es wird auch über neue Regeln diskutiert beim Verband: Die Klubs sollen gezwungen werden, mehr Junge aus ihren Akademien in die erste Mannschaft aufzunehmen. Es ist mal wieder von der Notwendigkeit eines Kulturwandels die Rede. In der Regel heißt das vor allem: Geht lange, ist kompliziert, Erfolg ungewiss.

So stand Roberto Mancini, der Commissario Tecnico, neulich sogar kurz davor, das ewige Selbstverschwendungstalent Mario Balotelli in der Nationalmannschaft wieder auf der Neun zu installieren. Der spielt mittlerweile beim FC Sion, dem Tabellenletzten in der Schweizer Super League. So groß war die Verzweiflung der Europameister nach der verpassten Weltmeisterschaft in Katar.

Das Spiel Udinese gegen Milan als Symbol für kurzsichtige Personalpolitik

Mancini mag auch das Gesäusel vom grandiosen italienischen Vereinsfußball nicht hören: Drei Gesandtschaften der Serie A stehen im Viertelfinale der laufenden Champions League, ein wahrlich unverhofftes Glück. Mancini aber weckte mal schnell alle aus dem Märchenschlaf. Vor dem Spiel gegen England rechnete er den Italienern vor, dass es in diesen Mannschaften kaum Spieler gebe, die er aufbieten könne, dass ihm die italienischen Vereine insgesamt keine Hilfe leisteten mit ihrer kurzsichtigen Personalpolitik. Als skandalöser Symbolfall, oft herumgereicht, gilt das Meisterschaftsspiel Udinese gegen Milan vom 18. März dieses Jahres. In den Startformationen standen drei Italiener - drei von 22.

Und so sucht Mancini eben auch nach unorthodoxen Lösungen und testet Spieler, die in ihren Vereinen kaum jemals oder gar nicht zum Einsatz kommen. Einen Anruf erhielt zum Beispiel Simone Pafundi von Udinese, 17 Jahre alt. Der Mittelfeldspieler gilt als ganz großes Talent, so groß, dass er die Nationalmannschaft verdient - nur, im eigenen Klub spielt er fast nie. Neunzig Fußballer hat Mancini schon getestet, in 57 Länderspielen, ein denkwürdiger Rekord, ein recht untrügliches Zeichen für die Ohnmacht des Coaches.

Retegui konnte sich lange nicht zwischen Hockey und Fußball entscheiden

Auf Mateo Retegui kam er dank eines Hinweises von Juan Sebastián Verón, einem alten Bekannten des Calcio, Ex-Spieler von Sampdoria, Parma, Lazio und Inter und nun Sportdirektor bei Estudiantes. Verón, so ist anzunehmen, musste viel erklären.

Von Retegui hatten in Europa bestenfalls internationale Scouts, Nischenkundige und Agenten gehört. Er ist der Sohn des früheren argentinischen Nationaltrainers im Feldhockey. Die ganze Familie Retegui spielte oder spielt Hockey. Mateo konnte sich lange nicht entscheiden, ob er eher dem großen Lederball oder dem kleinen Kunststoffball nachrennen mochte. River Plate holte ihn in die eigene Jugend, ließ ihn aber fallen, und so kehrte er mit 14 zurück zum Hockey. Ein Scout von Boca Juniors entdeckte ihn am Strand, beim Sandgekicke mit Freunden. So kam er zum Verein der italienischen Emigranten. Der lieh Retegui aber in den vergangenen Jahren immer aus.

Im Club Atlético Tigre aus Victoria, einer Kleinstadt im Großraum Buenos Aires, gelang ihm der Durchbruch: 25 Tore in 34 Spielen, das ist schon eine beachtliche Quote. Aber was ist die wert, übersetzt in europäische Kategorien?

Mancini belud ihn bei seiner Ankunft in Italien mit einem Vorschuss, den man ihm besser erspart hätte. "Ich will nicht übertreiben", sagte der Trainer, "doch Retegui erinnert mich an den frühen Batistuta." An "Batigol" also, den großen Gabriel Omar Batistuta - nur gut, dass Mancini nicht übertreiben wollte. Die italienischen Zeitungen waren belustigt über das Aufgebot. Sie nannten Retegui "Bomberino". Ein Blatt fand: Immerhin, der habe das Tor im Namen stehen: "Rete-gui" - rete ist das italienische Wort für Tor. In Coverciano, dem Trainingszentrum der Azzurri bei Florenz, erhielt Retegui taktischen Einzelunterricht, eine Schnelleinführung in den Calcio. Drei Tage Zeit hatten sie nur.

Er ist der 51. "Oriundo" in der Geschichte des Calcio - sie waren immer kontrovers

Doch Mancini berief Retegui in die Startelf, aus dem Nichts, und machte ihn zum 51. Oriundo in der Geschichte der italienischen Nationalmannschaft. Der Begriff "Oriundo" kommt ursprünglich vom lateinischen Verb "oriri", geboren werden. Gemeint sind Italiener der Diaspora mit oft sehr fernen Vorfahren, die die Staatsbürgerschaft ihres Geburts- und Wohnlandes angenommen haben - und sich dann ihrer Herkunft besinnen, für ihren eigenen sportlichen Ruhm und zuweilen für den Ruhm des verblassten Vaterlandes. Es gab berühmte, zuweilen gefeierte Oriundi über die Jahrzehnte: Omar Sivori, José Altafini und Mauro Camoranesi etwa. Es gab aber auch solche, die schnell wieder weg waren, manchmal nach einem einzigen Auftritt. Kontrovers war ihr Einsatz für Italien immer.

Bei Mateo Retegui war das auch so, es wurde sogar moniert, dass er im Vornamen nur ein t trägt, wo die italienische Entsprechung sich doch mit zwei t schreibt: Matteo. Alles Geplauder. 56 Minuten lang war Retegui gegen England völlig verloren auf dem Platz, chancenlos im Nahkampf mit seinem Gegenspieler Harry Maguire. Falsches Timing, falsche Laufwege. Und Bälle? Kriegte er keine. Es gab Momente, da konnte einem Retegui richtig leidtun. Die Kommentatoren im italienischen Fernsehen bemühten schon alle möglichen mildernden Umstände. Doch dann, als die Italiener ihren Spielschwerpunkt etwas weiter nach vorne verlegten, war er plötzlich da, in Maguires Rücken. Wie ein "Hai", schreiben die Zeitungen. Bis dahin hatte es sich eher so angefühlt, als hätte man ihn den Haien zum Fraß vorgesetzt.

Der Debütant bekam nun von allen Italienern die besten Noten. Wegen des Treffers, allein wegen dieses Blitzes in der Nacht, der die Niederlage nicht verhinderte. Es war der einzige Schuss der Italiener aufs Tor der Engländer am ganzen Abend. "Little Italy", so nennt man ja auch die Viertel in den Städten weitab von Italien, wo sich die Emigranten niederließen, alle beisammen. Mit der Wehmut nach der gloriosen und oftmals glorifizierten Heimat.

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