Süddeutsche Zeitung

Bundesliga:Keiner! Will! Solche! Handelfmeter! Sehen!

Lesezeit: 3 min

Der Handelfmeter hat sich zum größten Ärgernis der Fußballgegenwart entwickelt. Die Probleme reichen von der Regel selbst bis hin zum Verhalten von Spielern und Trainern.

Kommentar von Moritz Kielbassa

Zum rhetorischen Werkzeugkasten von Trainern und Fußballern gehört ein Phrasensatz, der oft zur Anwendung kommt, wenn ein Außenseiter mit defensiver Strategie siegen will. Der Satz lautet: "Wir wollen hinten gut stehen und vorne Nadelstiche setzen!" - wobei Nadelstiche heißt: effiziente Konter oder Tore nach Standards! Im Frühjahr 2019 steht dieser Satz aber leider kurz vor einer Formulierungsrevolution. Es dauert womöglich nicht mehr lange, bis der erste Trainer sagt: "Wir wollen hinten gut stehen - und vorne einen Handelfmeter kriegen!"

Handelfmeter ist schon jetzt das Unwort des Jahres 2019. Der Handelfmeter hat sich zum größten Ärgernis der Fußballgegenwart entwickelt, und er ist sogar auf dem schlechten Weg, sich als taktisches Stilmittel zu etablieren. Es gab ja nicht nur die berechtigte Zornrede des BVB-Trainers Favre, dass die geltende Auslegung der Handregel der "größte Skandal" sei und sich der Fußball damit "lächerlich" mache. Sein Bayern-Kollege Kovac raunte auch, es sei fast schon lohnender, bei Flanken den Arm eines Gegners treffen zu wollen als den Kopf eines Mitspielers.

Zitiert sei zudem der Trainer des Tabellendritten: Obwohl RB Leipzig zuletzt zweimal siegbringend von komischen Handelfern profitierte, sagte Ralf Rangnick, was viele Fans denken: dass es so nicht weitergehen könne; dass "klare Absicht" bei Handvergehen wieder das Kernkriterium sein müsse, am besten kombiniert mit der Frage, ob eine Torerzielung verhindert wird, weil sich alle anderen 08/15-Handspiele im Strafraum durch Elfmeter übersanktioniert anfühlen. Und auch Rangnick deutete an, es könnte inzwischen schon Teil der Trainingsarbeit sein, wie man im Sechzehner am besten dem Gegner den Ball an den Arm chippt.

All dies sind Alarm- und Hilferufe, und auch die nackten Zahlen belegen dringenden Handlungsbedarf: 30 Handelfmeter gab es in dieser Saison bereits, der statistische Mittelwert in 56 Jahren Bundesliga waren 11,7. Es gab auch Saisons mit fünf, sechs Handelfern insgesamt - und heute? Eher drei Szenen pro Spieltag, die Debatten und Schleudertrauma-Kopfschütteln erzeugen. Siehe aktuell: Elfer bei Dortmund/Schalke gegen Weigl (schlimmer Pfiff), und diesen Samstag gebündelt: Elfer gegen Bayern wegen Boatengs Ellbogen (auch schlimm), kein Elfer gegen Berlins Volleyballer Rekik (noch schlimmer, weil's gar niemand sah) - und kein Elfer gegen den BVB und Götze, der den Ball mit angelegtem Arm bremste (erfreulicherweise nicht geahndet, aber im Kontext zu Weigl/Boateng nicht nachvollziehbar).

Vier Probleme: die Regel, ihre Auslegung, der Videobeweis, das Verhalten von Spielern und Trainern

Natürlich hat dieses Dauerthema tausend Aspekte, daher ein Versuch, ein paar Dinge aufzudröseln. Problem A: die Regel! Jahrzehntelang hat es relativ seriös funktioniert, Hand über Absicht, Bewegung und Entfernung zum Ball strafbar zu machen - bis kompliziertere Interpretationen mehr Bedeutung bekamen: "vergrößerte Körperfläche", "Abspreizung des Armes nach der Vier-bzw.-Acht-Uhr-Regel" (also strafbar ab 3.59 und 8.01 Uhr?), "unnatürliche Handbewegungen" (die zur Gleichgewichtswahrung des Spielers oft höchst natürlich sind). Daher bitte, liebe Fifa: die Regel deutlich vereinfachen - und vielleicht mal nachdenken, ob außer bei sonnenklarer Torvereitelung nicht indirekter Freistoß eine klügere Strafe wäre als Elfmeter. So, wie es ist, sind jedenfalls alle überfordert: Spieler, Fans - und Schiedsrichter.

Problem B: deren Auslegung der HandRegel! Die sei "konsequent und sehr berechenbar", betonte DFB-Schiedsrichter-Chef Fröhlich zuletzt. Das mögen die Referees guten Gewissens so empfinden, aber die reale Empfindung des Publikums ist: Man kapiert gar nichts mehr, es herrscht Entscheidungs-Willkür - und das Ergebnis sind, verglichen mit früher, viel zu viele Elfmeter. Eine "Rückkehr zur Normalität bei der Anwendung der Handregel", empfiehlt der frühere Pfeifenprimus Markus Merk. Dem ist nichts hinzuzufügen.

Problem C: der Videobeweis! Die neue Technik hat dem Fußball viel Gutes gebracht: Ob der Ball im Tor ist, ob es Abseits war - das lässt sich nun zu 99 Prozent objektiv klären. Doch die Handspiel-Verwirrung ist durch Bildersichtung schwerer lösbar, weil oft keine unstrittig korrekten Urteile möglich sind. Im Gegenteil: Die meisten sonderbaren Handelfmeter zuletzt wurden erst per Videokeller-Einmischung verhängt. Und wenn sich, wie am Samstag in Berlin, die beiden aktuellen Hauptprobleme überschneiden - "Was ist Hand?", "Wann greift der Videoschiri ein, wann nicht?" - dann wird's zappenduster.

Eine grundsätzliche Frage wäre auch: Warum schaut sich der Schiedsrichter eigentlich nicht JEDE Elfmeterszene - egal, ob er sie selbst erkannt hat oder eine Meldung aus dem Videokeller bekam - noch mal zur Sicherheit selbst am Monitor an? So viel Zeit muss doch sein. Und das wäre ein wirklich transparentes Verfahren, das zumindest Kommunikationspannen zwischen Rasenreferee und Videokeller (wie neulich beim Pokal in Bremen) als Ursache von Fehleinschätzungen ausschließt.

Problem D: das Verhalten von Spielern und Trainern! Es mag menschlich sehr verständlich sein, dass jeder, dessen Team harte Handelfmeter gegen sich erhält, im Sinne von gefühlter Gerechtigkeit auch selber welche einfordert. Aber wenn mittlerweile standesgemäß wildes Fauchen einsetzt, sobald der Ball auch nur den Fingernagel eines Gegners streift, dann steigt auch die Hysterie der Fans und die Verunsicherung der Schiedsrichter. Also: Aufhören mit albernem Reklamieren! Denn es geht doch fast allen so wie Jérôme Boateng, der am Samstag der Handregel einen Vogel gezeigt hat: KEIN! MENSCH! KOMMA! DER! FUSSBALL! LIEBT! KOMMA! WILL! SOLCHE! HANDELFMETER!

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Quelle:
SZ vom 06.05.2019
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